Dieses Stundenbuch wurde in Zentralfrankreich, aller Wahrscheinlichkeit nach in Paris, angefertigt. Das Exemplar der Jolanthe von Flandern-Cassel (gest. 1395), Tochter Roberts de Dampierre, wird dem Künstler Jean le Noir (1331-1375) zugeschrieben. Ein Stundenbuch (latinisiert auch Horarium) war dem Aufbau nach dem Brevier der Römisch-Katholischen Kirche ähnlich. Es ist ein Gebet- und Andachtsbuch für Laien und später auch für Kleriker. Diese Stundenbücher kamen im 13. Jahrhundert auf und verdrängten den Psalter aus seiner beherrschenden Rolle als Gebetbuch. Wegen der thematischen Freiheit boten Stundenbücher den Miniaturisten viel Raum, ihr Können zu demonstrieren.
Gezeigt wird auf fol. 107v eine Abbildung zu einem Bußpsalm. In der Mitte findet sich einer Christusfigur, die von einer goldenen Fantasiearchitektur der Hochgotik gerahmt ist. Darum sind, wie in dem gesamten Stundenbuch, zahlreiche merkwürdige, groteske Figuren gruppiert, die Sünden und Versuchungen symbolisieren. Das eigentliche Himmlische Jerusalem findet man zu Füßen der Christusfigur. Leider hat sich ein Teil der blauen Schrift der gegenüberliegenden Seite hier eingedrückt. Zusätzlich ist die Miniatur durch einen Wasserschaden von 1846 beeinträchtigt. Gut zu sehen sind sechs Rundtürme mit roten Kegeldächern. Dazwischen sind Bauten, aber auch Büsche und Bäume gesetzt. Richtig populär sollte diese Vedute erst in Stundenbüchern des folgenden Jahrhunderts werden, durch Meister Gijsbrecht van Brederode aus Utrecht für Yolande de Lalaing (1422-1497).
Dieses Manuskript wurde 1901 von dem Briten Henry Yates Thompson (1838-1928) erworben. Er hatte als Zeitungsmogul ein Vermögen zusammengebracht, das er in seine Handschriftensammlung investierte. Seine Frau schenkte die Handschrift dann 1941 dem heutigen Besitzer, dem British Museum in London.
Sydney Carlyle Cockerell: The Book of Hours of Yolande of Flanders. A manuscript of the Fourteenth Century in the Library of Henry Yates Thompson, London 1905.
Francis Wormald: The Yates Thompson manuscripts, in: The British Museum Quarterly, 16, 1952, S. 4-6.
Millard Meiss: French painting in the time of Jean de Berry. The late XIV Century and the patronage of the Duke, 2 Bdd., London 1967.
Karin Gludovatz, Michaela Krieger: ‚La contesse de Bar, Jean le Noir, enlumineur, et Bourgot, sa fille, enlumineresse de livres‘: Zu Konzeption und Ausführung der ‚Heures de Flandre‘, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch, 64, 2003, S. 83-124.