Zu den frühen steinernen Lauretanischen Litaneien Frankreichs zählt ein Relief aus Montdidier (Departement Somme), in der dortigen römisch-katholischen Kirche Saint-Sépulcre. Es wird auf die Zeit um 1510 datiert, als in ganz Frankreich solche Arbeiten massenweise produziert wurden. Vor allem in kleinen Kapellen und entlegenen Dorfkirchen haben sich gut zehn solcher Steinmetzarbeiten erhalten; viele weitere wurden in der Reformation, während der Französischen Revolution und dann im Zweiten Weltkrieg beschädigt oder gingen ganz verloren.
Das Beispiel aus Montdidier war im Laufe der Jahrhunderte unterschiedlich bemalt, wovon heute jedoch nur noch Reste vorhanden sind, am ehesten noch bei der rotfarbenen Beschriftung der einzelnen Symbole. Die Steinprofilierung im Flamboyantstil hat sich ansonsten in der Form erfreulich gut erhalten. Eine zweitürmige Himmelspforte, vor die eine einzelne Figur gesetzt ist, befindet sich auf der linken Seite neben der Marienfigur. Um wen handelt es sich? Auch eine Begutachtung vor Ort 1998 konnte keine endgültige Klarheit schaffen. Man kann aber erkennen, dass die Figur keinen Heiligenschein hat und auch keine Flügel, daher handelt es sich wohl nicht um einen Engel oder um den Heiligen Petrus. Aus druckgrafischen Werken, von Stuckaturen und von italienischen Malereien der Maria Immaculata kenne ich das Motiv des Zuflucht suchenden Menschen vor der Porta Coeli (hier ein Beispiel aus der Schweiz), und daher vermute ich, dass es sich hier um einen Geretteten handelt, der gerade in das Neue Jerusalem eintritt. Die Civitas Dei wurde direkt unter den Füßen Mariens angebracht. Sie zeigt expressive Hausgiebel, die mit den Strahlen der Gloriole von oben korrespondieren und der Stadt eine abwechslungsreiche Dachlandschaft verleiht.
Claus Bernet: Die Frühe Neuzeit. Eine Hoch-Zeit der Jerusalemskultur, Norderstedt 2016 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 5,2).