Es handelt sich bei dieser Arbeit um einen Holzschnitt ohne eigene Beschriftung, er hat wahlweise den Titel „Tod und Erlösung“ oder „Der Sensenmann“ bekommen. Anhand des Monogramms (ein ineinander geschobenes „M“ und „G“ auf dem Wolkenband) ist die Arbeit eindeutig Matthias Gerung (1500-1570) zugewiesen. Das Interesse des Reformationskünstlers an der Apokalypse und speziell am Himmlischen Jerusalem ist bekannt, denkt man an die Ottheinrich-Bibel (1532) oder seine Apokalypsestudien (1546).
Etwas seltener wird auch dieser Holzschnitt (Größe 23 x 16 Zentimeter) herangezogen, bei dem der Charakter des Neuen Jerusalem etwas zurücktritt zugunsten drastischer und bizarrer Einzeldarstellungen. Die himmlische Welt ist im oberen Drittel dargestellt und durch zwei Elemente von unten abgetrennt, durch ein Wolkenband und durch eine gebogene Stadtmauer. Diese Form kennt man von Miniaturen aus Frankreich, beispielsweise in MS Fr. 18 (1473) und MS 2 (1480). Bei Gerung ist die Mauer einfallsreich gestaltet: Zwischen zwei Zinnen hat der Künstler jeweils einen Engelskopf mit Flügeln in die Mauernische eingefügt. Links und rechts feiern Heilige mit Christus das Abendmahl. In der Mitte erscheint Christus nochmals, wo er das Buch des Lebens öffnet. Umgeben ist er von Engeln mit Schwertern, die die heilige Stadt oben von der Verdammnis unten trennen.

Jetzt wird es interessant: Zwischen Mond (links) und Sonne (rechts) spielt sich der Untergang ab; eine Stadt geht in Flammen auf, eine andere wird überschwemmt. Besonders drastisch sind die Einzelschicksale, die um den Sensenmann herum eingefügt sind. Ein Mensch wurde an einen Baum gehängt, ein Selbstmörder wird von einem Teufelsinsekt gefressen, ein Man in prächtigem Gewand liegt da wie erschlagen, rechts bedroht ein Wildschwein einen Säugling, als Gegenstück zu dem Sarg rechts oben zu verstehen: Von der Wiege bis zur Bahre droht nur Ungemach und Gefahr, Schutz bietet allein das Himmlische Jerusalem.
Der Holzschnitt gehört zu einer Serie von Holzschnittillustrationen für die Übersetzung des Predigers Laurentius Agricola (1497-1564) von Sebastian Meyers Apokalypse-Kommentar. Die Serie ist 1544 von Graf Ottheinrich von der Pfalz in Auftrag gegeben worden, wurde aber nie vollendet oder veröffentlicht. Die ursprüngliche Idee war, die Holzschnitte paarweise gegenüberzustellen: links eine Illustration aus der Apokalypse, rechts eine Satire. Gerung war mit den Arbeiten mindestens bis 1558 beschäftigt. In verschiedenen Bibliotheken haben sich an Zahl und Reihenfolge unterschiedliche Serien erhalten; dieses Blatt, eines der letzten der Serie, stammt aus dem British Museum (Inventarnummer 1937,1008.28).
Campbell Dodgson: Eine Holzschnittfolge Matthias Gerungs, in: Jahrbuch der Königlich Preußischen Kunstsammlungen, 29, 1908, S. 195-216.
Petra Roettig: Reformation als Apokalypse. Die Holzschnitte von Matthias Gerung im Codex germanicus 6592 der Bayerischen Staatsbibliothek in München, Bern 1991.
Wolfgang Glüber (Bearb.): Das Ende der Welt. Drei Apokalypsefolgen des 15. und 16. Jahrhunderts aus eigenem Bestand, Hessisches Landesmuseum Darmstadt 21.3. – 27.5.1996, Darmstadt 1996.
Frances Carey (Hrsg.): The Apocalypse and the shape of things to come, Toronto 1999.


