Gerard Horenbout, Sanders Bening: Stundenbuch für Johanna I. von Kastilien und Philipp des Schönen (1496-1506)
Das Stundenbuch für Johanna I. von Kastilien, die Wahnsinnige, und Philipp, der Schöne, wurde zwischen 1496 und 1506 in den Spanischen Niederlanden, in Brügge oder in Gent, angefertigt. Mitte des 19. Jahrhunderts gehörte der Kodex zur Sammlung von Baron Ferdinand James Anselm de Rothschild (1839-1898). Der Baron vermachte das Stundenbuch 1898 dem Britischen Museum. Aufbewahrt wird es heute unter der Signatur Add MS 35313 in der British Library in London.
Unter den Stundenbüchern gilt es, neben den älteren Ausgaben des Herzogs von Berry, als hervorragendes Werke dieser Gattung: Der dreidimensionale Realismus und die hohe Detailgenauigkeit dieser Miniaturen (insbesondere jener aus dem Passionszyklus) wie auch die ausdrucksstarken Gesichter und die lebendige Darstellung der illuminierten Szenen machen diese Handschrift zu einem der herausragendsten Werke flämischer Kunst.
Das Werk umfasst 850 Seiten feinsten Pergaments mit weit über eintausend Miniaturen, an denen verschiedene Maler beteiligt waren, darunter Gerard Horenbout, der bedeutendste flämische Miniaturmaler des 16. Jahrhunderts, sowie Sanders Bening und seiner Werkstatt, die den Großteil der Porträts bei den Heiligenfiguren schufen. Wer konkret welche der Miniaturen angefertigt hat, kann unmöglich mit Sicherheit entschieden werden, es gibt zu dieser Frage unterschiedliche Ansichten. Eines ist unbestritten: Beide Maler standen in der Tradition des Rogier van der Weyden (1399/1400-1464), der aber zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Stundenbuchs seit fast zwei Generation verstorben war. Dennoch lässt sich sein Einfluss nachvollziehen, etwa, wenn man die Christusfigur seines Weltgerichtsaltars im Hôtel-Dieu in Beaune mit derjenigen dieses Stundenbuchs vergleicht.

Fol. 293v (Größe 13 x 9 Zentimeter) hat das Weltgericht zum Thema. Ähnlich wie Kalenderblätter gehörte ein Weltgericht gewissermaßen zur Standardausstattung eines Stundenbuchs, man orientierte sich am Gewohnten. Hier findet sich allerdings die Besonderheit, dass das Gericht als Bild im Bild gesetzt wurde: Der äußere Rahme ist ein zweistöckiger Arkadenbau, der bereits Ansätze der Frührenaissance zeigt. Der Bau ist goldfarben gesetzt, der Hintergrund vornehmes Könisgblau, das Schachbrettmuster im Vordergrund eine perspektivische Herausforderung.

Das innere Bild öffnet sich wie eine große Arkade und gibt den Blick frei auf den richtenden Christus, Himmel und Hölle im Stil des Schwarzaugenmeisters. Ungewöhnlich und nur hier zu finden ist die Ausstattung der beiden Posaunen mit zusätzlichen Fahnen. Der Bau links, der das Neue Jerusalem repräsentiert, ist vollständig goldfarben gehalten und nimmt auf die Architektur des äußeren Bildes Bezug. Im Verhältnis zu der Pforte ist die Stufe davor überdimensioniert, was dem Maler selbst aufgefallen sein muss, da er eine Frau zeigt, die einem kleineren Menschen die Stufe zu erklimmen hilft. Auch ein Engel – nicht Petrus – hilft beim Betreten in die rettende Stadt. Das Drachenmaul auf der gegenüber liegenden Seite ist mit dem weißen Auge besonders furchteinflössend, seine roten Flammen reichen weit bis an die Schwelle der Stadt heran.
Thomas Kren: Renaissance painting in manuscripts. Treasures from the British Library, New York 1983.
Carlos Miranda García-Tejedor: The Book of Hours of Joanna I of Castile, Barcelona 2005.
Anna Eörsi: Mary of Burgundy alive or dead, in: Acta historiae artium Academiae Scientiarum Hungaricae, 62, 2021, S. 39 -61.


