Es gibt gute Gründe, diese Stadtdarstellung als Himmlisches Jerusalem anzusehen. Das sind an erster Stelle die drei gewaltigen Rundbogentore an der Frontseite zum Betrachter hin. An den Seiten erheben sich in den Ecken runde Türme. Es sind insgesamt vier Türme, zwischen denen die Stadtmauer mit den Toren verläuft, demnach wäre die Anlage quadratisch und besäße insgesamt zwölf solcher Tore. Zudem ist die Stadt auf eine felsigen Anhöhe gesetzt, auf den Zionsberg, der schon seit Jahrhunderten das Neue Jerusalem markiert. Aus der Stadt fließen vier Flüsse, die hier als schwarze Linien dezent zwischen die Felsen gezogen sind – es sind die vier Paradiesflüsse, eine ebenfalls altes Bildelement des Neuen Jerusalem.
Die Stadtillustration markiert den Ort des Neuen Jerusalem auf einer Weltkarte, einer Mappa Mundi. Diese Karten dienten nicht der modernen, naturgetreuen geografischen Darstellung, sondern illustrierten das theologische und enzyklopädische Weltbild des Mittelalters. Daher findet man in diesem Fall an der Stelle des palästinensischen Jerusalem zwar eine islamische Stadt mit Moscheen und Flachbauten, aber am Rand der Karte eben auch diese Darstellung. Genaugenommen ist Jerusalem hier zwei Mal präsent, als geschichtlicher Ort und als Heilsvorstellung.

Geschaffen hat sie der Kartograph Andreas Walsperger mit deutscher Beschriftung; fertig wurde sie 1448 in Konstanz. Es ist die letzte dieser geographischen Karten, die das Himmlische Jerusalem mit aufnimmt, was mit der Ebstorfer Weltkarte (um 1300) ihren Anfang nahm. Im Gegensatz zu dieser befindet sich Jerusalem nicht mehr im im Zentrum, sondern am linken Rand der insgesamt 74 x 60 Zentimeter großen Karte. Da die Karte gesüdet ist, stellt die linke Seite den Osten, nicht den Westen, dar. Dort, am äußersten östlichen Rand, ragt das Neue Jerusalem bereits an zwei Punkten an die sieben Sphären der Himmelskugel nach Ptolemäus – antike und christliche Vorstellungen berühren sich.
Die Karte gehört unter der Signatur Pal. Lat. 1362 zum Bestand der Vatikanischen Bibliothek. Dort wurde sie zufällig aufgefunden, als Konrad Kretschmer, ein neuzeitlicher Geograph, im Vatikan Studien betrieb und diese Karte neben dem Atlas des Petrus Vesconte entdeckte. Kretschmer war auch der erste, der die Karte damals der Fachwelt in einem Aufsatz vorstellte. Der Atlas befand sich zuvor im Besitz der Familie Fugger, die für ihre Handelsunternehmungen die besten Karten ihrer Zeit besaßen, vermutlich auch die Walsperger-Weltkarte.
Konrad Kretschmer: Eine neue mittelalterliche Weltkarte der vatikanischen Bibliothek, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, 26, 1891, S. 371-406.
Dorothea Hauck: Die Weltkarte des Andreas Walsperger orientiert sich an mittelalterlicher klösterlicher Tradition, in: Bibliotheca Palatina. Katalog zur Ausstellung vom 8. Juli bis 2. November 1986, Textband, Heidelberg 1986, S. 358-359.
Walter Berschin: Die Palatina in der Vaticana. Eine deutsche Bibliothek in Rom, Stuttgart 1992.
Lena Näser: Die Weltkarte des Andreas Walsperger. Kartografische Wissenskulturen um 1448, Berlin 2025.


