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Die mittelalterliche Dichtung „Pélerinage de la vie humaine“ stammt von Guillaume de Digulleville (auch Déguileville, 1295-1358). Sie wurde im 15. Jahrhundert gerne illustriert. Die meisten dieser Werke sind irgendwann in Museen gelangt, diese Fassung ist eine der ganz wenigen Exemplare in Privatbesitz. 2004 stand sie in der Schweiz zum Verkauf an und wurde eigentlich dadurch erst von der Forschung deutlicher wahrgenommen. Ursprünglich gehörte das Exemplar ab 1470 der Königin Charlotte von Savoyen (1441-1483).
Erstmals, soweit bekannt, wurde in dieser Fassung die zuvor in Versen verfasste Dichtung in Prosa angeboten, versehen mit Miniaturen eines Meisters von der Loire. Bereits die zweite Miniatur zeigt auf fol. 1v eine offene Pforte, welche mit einer gekonnten Tiefenwirkung in das golden gepflasterte Neue Jerusalem führt; die quadratische Zeichnung ist ansonsten in Grau und Blau gehalten. Beachtet werden sollte die überaus lebendige und abwechslungsreiche Dachlandschaft mit unterschiedlichen Türmen, Türmchen und Fähnchen.
Es folgt auf fol. 2 eine ähnliche Darstellung der Stadt, die nun durch Bäume und einen Wächterengel belebt ist. Man kennt ähnliche Engelsfiguren der Ausgabe von Aymar de Poitiers, die zeitgleich entstanden ist. Der Engel steht hier auf einer Art hölzernen Rampe, die es im Mittelalter tatsächlich vor Stadtgräben gab, um vor Unrat, Fäkalien, Morast und Wasseransammlung zu schützen. Der furchteinflösende Engel hebt drohend das Schwert, hinter ihm steht die Pforte offen, durch sie hindurch kann man den Blick auf eines der Häuser der Stadt erhaschen.
Fol. 2v setzt die Geschichte fort: Über den Zinnen erscheint Bischof Augustinus (rechts in roter Schrift so bezeichnet), vor der Stadt rechts hat sich Guillaume als Zisterziensermönch eingefunden, links von ihm zwei weitere Mönche des Franziskanerordens, die in das Geschehen involviert sind: Mit großen Pfauenfedern versuchen sie, über die Stadtmauer zu fliegen. In allen Bildern gehen die Türme bis über den Bildrand. Die Stadt ist angefüllt mit sakralen und profanen Bauten, die Reichtum und Sicherheit ausstrahlen, was als ein hervorstechendes Merkmal dieser Ausgabe gilt.
Anne-Marie Legaré: Allégorie et gestualité dans un manuscrit du Pèlerinage de vie humanie en prose, in: Senefiance, 41, 1998, S. 339-367.
Anne-Marie Legaré: Le Pèlerinage de vie humanie en prose de la Reine Charlotte de Savoie, Passau 2004.