1916 entstand die Schwarzweiß-Zeichnung „Weiße Stadt“ von Nicholas Roerich (1874-1947). Das Werk hat eine ähnliche Grundidee wie das farbige Gemälde „Engelsschatz“ (1905), zu dem es eine Nachstudie ist. Auch hier tritt ein Engel mit einem Flammenschwert, der Heilige Michael, schützend und bewachend vor das Himmlische Jerusalem. Mit seinen dünnen Beinen und der Frisur wirkt er feminin, mit dem gezückten und erhobenen Schwert und der verzierten Schwertscheide in seiner linken Hand wirkt er männlich, zumal wenn man bedenkt, dass das Tragen von Waffen zu dieser Zeit allein Männern vorbehalten war. Der Bau rechts lässt seine russisch-orthodoxe Herkunft (Zwiebelkuppel, quadratischer Grundriss) an der Architektur erkennen. Manche Architekturhistoriker sehen einen Zusammenhang von solchen Sakralbauten der Ostkirche und der Beschreibung des Himmlischen Jerusalem in der Johannesoffenbarung. Einen ähnlichen Kirchenbau hat Roerich übrigens oben hinter die Stadtmauer in das Himmlische Jerusalem gesetzt, dort mit seiner typischen Dreiteilung des Mauerwerks, was die Anlehnung an das Himmlische Jerusalem noch deutlicher macht. Es ist gewissermaßen ein Himmlisches Jerusalem gebaut im Himmlischen Jerusalem.
Der vordere Bau ist lediglich ein Vorposten, die eigentliche Stadt zieht sich auf dem Berg im Hintergrund von links nach rechts. Nach der Kuppel scheint die Stadtmauer abzubrechen und in einen weißen Weg überzugehen, parallel zu dem Weg vorne links. Dieser Weg ist natürlich eine Referenz an den Pilgerweg, den jeder und jede zu beschreiten hat, wenn das Ziel des Neuen Jerusalem erreicht werden soll. Zugleich sind die Wege ein Strukturmerkmal der ansonsten recht eintönigen Felsenlandschaft, etwa es wie in „Engelsschatz“ die zusätzlich vorgesetzten Mauern und Vorwerke waren. Im Werk von Roerich sind solche Schwarzweiß-Zeichnung eine seltene Ausnahme, vielmehr ist der Meister für leuchtende, farbintensive Malereien bekannt.
William Ritter: Artisti contemporanei. Nicolas Roerich, in: Emporium. Rivista mensile illustrata d’arte e di cultura, 31, 1910, S. 163-178.
Jacqueline Decter: Nicholas Roerich. Leben und Werk eines russischen Meisters, Basel 1989.
Nicholas Roerich. From the collection of the International Centre of the Roerichs, Moscow, Aschau 1997.
Andrew Tomas: Nikolaus Roerich. Künstler und Lehrer, Aschau 1999.
Peter Leek: Russian Painting, New York 2012.
John McCannon: Nicholas Roerich. The artist who would be king, Pittsburgh 2022.