Siegfried Assmann (1925-2021): Betonfenster aus St. Gertrud in Lübeck (1962)

St. Gertrud in Lübeck ist eine gewaltige Großkirche des Protestantismus, 1909/10 nach den Plänen der Berliner Architekten Peter Jürgensen und Jürgen Bachmann als historistischer Bau im Übergang zum Jugendstil errichtet, im Prinzip ähnlich wie die St. Jakobikirche in Peine (1904) oder die Kreuzkirche in Wuppertal-Langerfeld (1911). Eine seltene Aufnahme aus der Erbauungszeit vermittelt noch etwas von der einstigen Schönheit der Innenausstattung mit einer Art „Wohnzimmer-Atmosphäre“:


In den letzten Kriegsmonaten 1945 kam es zu Schäden durch Brandbomben, die Fenster an der West- und Nordseite mit ihren Glasmalereien vernichteten. Ansonsten hat der Bau relativ unbeschadet den Krieg überstanden; Altar, Bestuhlung, Malereien wurden erhalten. Nicht überstanden haben diese Bauelemente eine anschließende „Purizifierung“, die jetzt auf einmal moderne Elemente einbrachte und die ehemalige Einheitlichkeit zerstörte. Das Argument, dass man damals bei fast jeder Neugestaltung zu lesen bekommt, findet sich auch in den Bauunterlagen zu St. Gertrud: Der Bau sei innen zu dunkel, man wünsche mehr Licht.
Insofern standen die neuen Fenster im Mittelpunkt des Interesses, und sie sind auch heute der wesentliche künstlerische Bezugspunkt des gesamten Innenausbaus. Beauftragt wurde der Ahrensburger Glasmaler Siegfried Assmann (1925-2021). Der Künstler verwendete hier Beton-Dallglas, hergestellt von den Gebrüdern Kuball in Hamburg. In den 1960er Jahren experimentieren viele Künstler mit Betonglas. Ähnliche Beispiele, die das Neue Jerusalem zeigen, kennt man von Heinz Lilienthal in Spradow (1960), von Vincenz Pieper in Oerlinghausen (1961), von Alois Plum in Darmstadt (1968) oder von Alfred Heller in Erlangen (um 1967). Assmann reihte vier schmale Seitenfenster um ein quadratisches Mittelfenster.

Die Motivwahl ist ungewöhnlich und so nur in St. Gertrud in Lübeck zu finden. Oben sind die zwölf Tore des Himmlischen Jerusalem aneinander gereiht. In ähnlicher Anordnung finden sich unten die zwölf Jünger beim Abendmahl. Wo dort Christus hervorgehoben ist, markiert oben ein orangefarbenes XP, also das Chi-Rho, die inhaltliche Mitte. Die übrigen Seitenfenster zeigen verschiedene Szenen oder Gegenstände der Passionsgeschichte, ebenso auch die Mitteltafel (Arma Christi unter den drei Golgathakreuzen).
Die Farben, überwiegend Blau, Rot und Gelb (in denen Assmann das Neue Jerusalem noch öfters darstellen sollte, vgl. etwa das kurz danach gefertigte Ostfenster im Meldorfer Dom) bestechen tatsächlich durch außerordentliche Leuchtkraft und Intensität. Das zentimeterdicke Betonglas ist tendenziell opak und nicht transparent, so dass der Innenraum nur unwesentlich heller wurde.

Überraschender Weise hat man hier auch nicht große Fensterbahnen gesetzt, sondern, im Verhältnis zur restlichen Wandfläche, relativ kleine Durchbrüche. Daran kann man sehen, dass das Argument nach „mehr Licht“ vielleicht lediglich vorgeschoben, zumindest nicht konsequent umgesetzt worden war.

100 Jahre St. Gertrud-Kirche zu Lübeck: 1910-2010, Lübeck 2010.

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tags: Siegfried Assmann, Betonfenster, Holstein, Abendmahl, Passion
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