Die Seiten „Alpha und Omega“ (fol. 42r) und „Das Lamm und Jerusalem“ (fol. 46r) fallen durch ihre ungewöhnliche, durchweg fröhliche Farbgebung auf, welche sich keineswegs an das sonst bei diesem Thema meist vorherrschende rotblaue Schema hält. Beide Miniaturen stammen aus einer kommentierten Apokalypseausgabe in altfranzösischer Prosa, die um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert in Frankreich geschrieben und bebildert wurde. Über unbekannte Wege gelangte die Handschrift in die Kunstsammlung des Baron Adrien Wittert, ihrem heutigen Namensgeber, und von seinen Nachfahren wurde sie an die Universitätsbibliothek von Lüttich abgegeben (Signatur MS Wittert 5).
Fol. 42r („Alpha und Omega“) zeigt eine bizarre Szene: Musik wird im Himmlischen Jerusalem gespielt, während direkt unter der Stadt in der Hölle drei arme Sünder blutig gefoltert werden. Die Stadt besteht aus einem zweistufigen Rundturm, vor dem Christus mit einer Posaune erscheint. Üblicherweise ist Engeln diese Aufgabe vorbehalten. Die Figur ist von einer Mandorla gerahmt, die der Stadt vorgesetzt wurde und wie aufgeklebt wirkt. Noch vor der Stadt sitzt eine zweite Person, es kann sich um einen weiteren Musikanten am Notentisch handeln wie ebenso Johannes am Schreibtisch.
Das Himmlische Jerusalem auf fol. 46r („Das Lamm und Jerusalem“) ist in der Proportion und Farbauswahl in etwa der ersten Darstellung gleich. Über der Stadt zieht sich ein türkisfarbener Bogen, der die zuvor gezeigte Zinnenbekrönung aufnimmt und an einen Regenbogen denken lässt. Dieser eigenartige Mauerbogen (man kennt es von keiner weiteren Jerusalemsdarstellung) überragt und rahmt die Stadt. Christus erscheint hier nun als Lamm Gottes, ohne Mandorla. Die Gestaltung ist völlig missraten, das Tier ähnelt eher einem Wombat. Das ist eigenartig, denn welches Tier dürfte der Miniaturist öfters gesehen haben als ein Schaf? Darunter kennzeichnen mehrere schmale Türme mit jeweils einem Tor die Stadt hier deutlicher als Himmlisches Jerusalem. Die schmalen Türme, die am Fundament beidseitig ausbuchten, kennt man ebenfalls aus keiner anderen Miniatur zum Neuen Jerusalem. Hingewiesen werden soll auch auf die Personengruppe links: Während ansonsten hier staunende oder ehrfurchtsvolle Gesichter gezeigt werden, wird hier gelacht und geschäkert. Zwei Personen haben Kugeln in den Händen: Vielleicht sind es Kennzeichnen ihrer adeligen Herkunft, vielleicht bringen sie Geschenke in die Stadt? Der beigegebene Kommentar gibt dazu keine Auskunft und scheint nicht in enger Abstimmung mit dem Zeichner entstanden zu sein.
Joseph Brassinne: Manuscrits Wittert, in: Catalogue des livres précieux manuscrits et imprimés faisant partie de la bibliothèque de M. Ambroise Firmin-Didot, Paris 1884, S. 9-10.
(5) L’Apocalypse de Saint Jean, in: Joseph Brassinne: Catalogue des manuscrits légués à la bibliothèque de l’Université par le baron Adrien Wittert, Liège, 1910, S. 15-16.
Léopold Delisle, Paul Meyer: L’Apocalypse en français au XIII. siècle, Reprint New York 1965.
Marie Georges Nicolas-Goldenberg: Meister europäischer Graphik. Aus der Kunstsammlung der Universität Lüttich: Vermächtnis Adrien Wittert, Bonn (1974).
Apocalypse de saint Jean, in: Carmélia Opsomer-Halleux: Trésors manuscrits de l’Université de Liège, Bruxelles, 1989, S. 21.
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