In der Kunstsammlung der Universität Göttingen hat sich ein Kupferstich erhalten (Inventarnummer: D 5310). Es ist kein Einzelstück, sondern gehört zu einem Apokalypsezyklus, deren Auflagenhöhe und Zweck wir nicht kennen. Man darf aber vermuten, dass der Druck für eine geplante oder tatsächlich zustande gekommene Bibelausgabe hergestellt wurde. Bislang ist aber noch keine Bibel entdeckt worden, die diesen Stich enthält. Ein Hinweis auf eine Bibelausgabe ist die Bildunterschrift „C. 21 V. 10“, also Kapitel 21, Vers 10, was sich auf die Johannesoffenbarung bezieht. Rechts unten ist das Blatt signiert, aber nirgends datiert.
Was allerdings für eine Übung und gegen eine (gedruckte) Bibelausgabe spricht, ist die Qualität: Das Lamm auf dem Zionshügel ähnelt mehr einem Hahn auf dem Misthaufen. Johannes der Seher und seine englische Begleitung sind nicht vollständig durchgearbeitet, wie auch die gesamte Architektur der Stadt mehr den Eindruck einer Skizze macht. Die eigenartige Himmelsöffnung, bei der man lediglich die Strahlen der Sonne, aber nicht diese selbst sehen kann, ist ein Experiment und findet man kaum anderswo.
Dabei haben wir es keineswegs mit einem Dilettanten zu tun, sondern mit einem großen Meister seiner Zeit: Conrad Meyer (1618-1689), ein Maler und Zeichner aus Zürich. Er lernte erst bei seinem Vater, einem noch bedeutenderen Kupferstecher, und vervollständigte seine eigene Ausbildung zunächst in Augsburg, einem der damals führenden europäischen Zentren der Druckgrafik, und Frankfurt am Main, wo er mit Matthäus Merian (1593-1650) zusammenkam. Merian hatte zu dieser Zeit (1630) seine Bibelausgabe herausgebracht, die damals den religiösen Kunstmarkt in Bewegung brachte. Überall entstanden Merian-Kopien, sei es als Schwarzdrucke oder bei Kirchenausmalungen, und auch diese Grafik ist stark von Merian beeinflusst.
Ein Entstehungsdatum während oder kurz nach einem Kontakt zu Merian würde erklären: Wir haben hier ein Übungsstück eines jungen Talents vor uns, der noch Großes leisten sollte. Auch war es gar nicht zur Veröffentlichung gedacht, das alleine verdanken wir den technischen Möglichkeiten der späteren Jahrhunderte – ungeachtet der Frage, ob private Skizzen oder Übungen überhaupt öffentlich gezeigt werden sollten. Noch ein weiteres Argument spricht für eine frühe Übung: Die Arbeit ist kein reiner Kupferstich, sondern zeigt Spuren einer Radierung. Meyer experimentierte hier also mit zwei Techniken, was man ausschließlich in seinem Frühwerk finden kann.
Conrad Meyer hat heute vor allem in der Schweiz in Fachkreisen noch eine Bekanntheit. Nach seiner Ausbildung machte er sich als Porträtist schweizerischer Persönlichkeiten einen Namen. Er reiste gerne und viel und gilt, neben dem Universalgelehrten Scheuchzer, als ein Begründer des schweizerischen Nationalgefühls, da er in Skizzen und Aquarellen seine Landsleute auf die Schönheit der Bergwelt aufmerksam machte. Wie aber kam seine Jugendarbeit in die Kunstsammlung der Universität Göttingen? Sie war einst Teil des Nachlasses von Johann Friedrich Armand von Uffenbach (1687-1769). Dieser war Bürgermeister der Reichsstadt Frankfurt, und auch ein eifriger Sammler und Mäzen. Nach seinem Tod gelangten nicht weniger als eintausend Zeichnungen und zehntausend Blatt Druckgraphik, dazu eine ganze Bibliothek und zahlreiche wissenschaftliche Instrumente nach Göttingen in die Universität, die er bereits zuvor gefördert hatte. Möglich ist, falls das Blatt von Meyer in Frankfurt verblieben ist, dass es dort in den Besitz des Sammlers kam. Möglich ist auch, falls Meyer seine Skizze in die Schweiz mitgenommen hat, dass von Uffenbach, der auf seiner Gelehrtenreise durch die Schweiz (1714/15) sich auch in Zürich aufhielt, es dort aus dem Nachlass von Meyer erworben haben könnte.
Johann Rudolf Rahn: Die Künstlerfamilie Meyer von Zürich, Zürich 1880.
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