Unter den Bauwerken der Selbständigen Lutherischen Kirche Deutschlands ist diese Darstellung des Himmlischen Jerusalems nicht nur die älteste, sondern auch eine von besonderer Ausdrucksstärker und Suggestivität. Man findet das Buntglasfenster aus Antikglas, Blei und Schwarzlot in der Martini-Kirche in Radevormwald (Bergisches Land), dort vorne am Eingangsbereich, rechte Seite.
Dieses Buntglasfenster gehört zu einem Ensemble von acht gleichgroßen Fenstern mit Darstellungen aus aus dem Alten wie Neuen Testament. Sie alle vereint eine klare Bildsprache und kräftige Farben, zudem bewegende Dynamik und bewegte Emotionalität. Die ungewöhnlichen Fenster wurden im Jahr 1959 vom Künstler Werner Gabel geschaffen. Für diese Zeit waren seine Bilder äußerst modern, selbst Kenner der Glaskunst datieren sie irrtümlich in die Mitte der 1960er oder gar 1970er Jahre. Der Künstler war mit seinen Fenstern der Zeit voraus. Umso erstaunlicher ist, dass über Gabel nicht wirklich viel bekannt ist. Von seiner Ausbildung her war er ein Metallbildhauer und führte seine Werkstatt in Wuppertal-Barmen. Sein vielleicht bekanntestes öffentliches Werk ist eine Metallplastik mit dem römischen Gott Mercurius von 1953 auf der Fassade des Berufskollegs von Elberfeld. Innerhalb der Sakralkunst kennt man von Gabel ausschließlich die Fenster der Martini-Kirche. Es ist höchst ungewöhnlich, dass dieser Künstler, von dem keine weiteren Kirchenfenster bekannt sind, solche qualitativ ausgereiften und technisch perfekten Arbeiten quasi aus dem Stehgreif vorlegen konnte.
Im oberen Bereich fällt sogleich ein mächtiges lateinisches Kreuz ins Auge. Bereits dieses Detail ist bemerkenswert, da das Zentrum der Stadt meist mit dem lebendigen Lamm thematisiert wird, sehr selten mit dem Symbol des Kreuzestodes. Auf dem Kreuz findet man an den Armen runde Kreise, insgesamt zwölf. Es sind die zwölf Perlen des Neuen Jerusalem. Die Edelsteine befinden sich ganz in der Nähe, und zwar oben auf den Toren, deutlich farblich unterschieden, was dann wieder im Regenbogen darunter fortgesetzt wird. Nach dem Bibeltext sollen aber die Edelsteine das Fundament der Tore sein, nicht ihre Bekrönung. Nun kann man sich aber durchaus vorstellen, dass die Edelsteine die Tore in der gesamten Vertikalität durchdringen und durchaus das Fundament ausmachen, auch wenn wir es (hier) nicht sehen. Ebenso kann es sich um eine künstlerische Freiheit Gabels halten, oder die Stadt, die ja ohnehin ein Kubus sein soll, hat gar kein oben und kein unten, so dass unsere Perspektive darauf nur irdisch, unvollständig sein kann.
Über dem Kreuz findet man noch die Anfangsbuchstaben des Alphas und Omegas, was durchaus zu einer gängigen Darstellungsweise Jerusalems gehört, wie auch die sieben Sterne links und die sieben Leuchter rechts (beides Motive aus der Apokalypse, die allerdings in Kapiteln vor der Beschreibung der Himmelsstadt erwähnt werden und eigentlich nicht zur urbanen Ausstattung Jerusalems gehören). Das Kreuz schlägt wie ein Keil in den Boden der Stadt, aus dem sogleich vier Flüsse entspringen, ein jeder in eine Himmelsrichtung – eine Reminiszenz an die vier Paradiesflüsse. Weitere Symbole sind die Krone und der Palmzweig (beides steht für die Märtyrer) und die sieben Posaunen, die das einleiten, was wir auf dem Fenster vor uns haben.
Unten hat Gabel einen Schuttberg dargestellt, ähnlich wie übrigens im gleichen Jahr Wolf-Dieter Kohler in der Stuttgart Hospitalkirche Es ist die alte, vergangene Schöpfung, die hier in sich zusammenfällt. Auffällig ist ein singuläres Tor, das noch recht unbeschädigt aussieht. Ich interpretiere dieses Tor als Himmelspforte, durch die man bereits während des irdischen Lebens treten muss, einen (mühsamen) Pfad nach oben zu bewältigen hat, bis man den eigentlichen Ort des ewigen Lebens und ewigen Abendmahls betritt. Diese Kombination von Himmelspforte und Himmlischem Jerusalem ist alt, sie hatte ihre Popularität vor allem auf Zweiwegbildern der Frühen Neuzeit.
Michael Bracht: Die Entstehung der selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (hier: Altlutherischen Kirche) im allgemeinen und ihrer Martini-Gemeinde Radevormwald im besonderen, in: Monatshefte für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes, 41, 1992, S. 173-189.
Wolfgang Motte: Die Gründung der Altlutherischen Martini-Gemeinde Radevormwald im Jahr 1852, Köln 2000.
J. Voelkel u.a.; 150 Jahre Martini-Gemeinde. Festschrift der Evangelisch-Lutherischen Martini-Gemeinde Radevormwald, o.O. 2002.
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