Gruftfresko aus der Stadtkirche von Michelstadt (um 1450)

Die evangelische Stadtkirche von Michelstadt im Odenwald erhielt ihre heutige Gestalt in der späten Gotik. Älter ist der nordöstliche, tiefer liegende Kapellenbau mit der Gruft der Schenken und Grafen von Erbach. Die Gruft ist nicht öffentlich und nur durch einen speziellen Eingang zugänglich. Die Familie zählt zum rheinfränkischen Uradel, konzentriert sich heute aber auf Schloss Erbach und Schloss Fürstenau im Odenwald.

Die Kapelle wurde Ende des 14. Jahrhunderts errichtet. In dieser befindet sich ein spätmittelalterliches Weltgericht, welches wissenschaftlich noch wenig beachtet ist. Das Fresko hat fast alle Merkmale einer typischen Darstellung des Himmlischen Jerusalems als Pforte: Petrus öffnet mit dem Schlüssel in einer Hand die schlichte Holztür. Er ist anhand seines goldgelben Nimbus deutlich zu erkennen. Da wir eine Zeichnung des Freskos von circa 1910 haben, wissen wir, dass auf dieser Pforte einst eiserne Beschläge aufgemalt waren, die heute nach über hundert Jahren fast verloren sind. Erhalten hat sich (noch) die Oberflächenstruktur der Tür, die Holz imitiert, wie auch die Struktur der Wandpartien um die Tür, die roten Marmor vortäuscht.
Mit der anderen Hand zieht Petrus den Papst mit seiner Tiara zu sich. Weitere geistliche und weltliche Ständevertreter haben sich dahinter zu einer Gruppe versammelt. Diese Gruppe scheint sich ausschließlich aus männlichen Vertretern zusammenzusetzen, was man vor allem an ihrer Bekleidung und Kopfbedeckung erkennen kann, darunter ein Kardinal, ein Bischof, ein Mönch. Was fehlt, ist die Mehrheit der damaligen Bevölkerung: Tagelöhner, Handwerker, Bauern, Mägde. Im Hintergrund öffnen sich allerdings die Gräber, möglicherweise sind hier auch weibliche Gerettete und andere Ständevertreter zu vermuten.
Das Fresko stammt nicht aus der Erbauungszeit der Gruft. Die Zusammensetzung der Gruppe und die individuelle Gestaltung der Physiognomien, was auf einen talentierten Künstler hindeutet, lassen eine Entstehung um die Mitte des 15. Jahrhunderts vermuten. Ähnlichkeiten bestehen zu einem Weltgerichtsfresko aus der Marienkirche Büdingen, das wenig später entstanden ist.

Hermann Bernbeck: Die Stadtkirche zu Michelstadt. Festschrift zu ihrer Wiederherstellung und Neueinweihung, Michelstadt 1910.
Kirchenvorstand der Evangelischen Stadtkirchengemeinde Michelstadt (Hrsg.): 500 Jahre Stadtkirche Michelstadt, Michelstadt 1990.
Jürgen Rainer Wolf: Grafschaft Erbach, in: Ritter, Grafen und Fürsten –
weltliche Herrschaften im hessischen Raum ca. 900-1806, Marburg 2014, S. 173-194.

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tags: Odenwald, Gruft, Fresko, Spätmittelalter, Stände, Weltgericht
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