Die Hamedian Gallery befindet sich in der Via Dolorosa in der historischen Altstadt von Jerusalem. Die Galerie hat sich auf russische Ikonen und religiöse Devotionalien spezialisiert und ist auf diesem Gebiet führend in Israel. 2011 konnte ich die Galerie besuchen und im historischen Jerusalem eine Darstellung des Himmlischen Jerusalem entdecken. Diese einst in Kirchenbesitz befindliche Ikone ist inzwischen in einer Privatsammlung. Es handelt sich dabei um eine Ikone mit einer Darstellung des Weltgerichts nach der Kiewer Malerschule, die neben der Nowgoroder und Stroganower zu den wichtigsten Schulen gehört, die bis in das 19. Jahrhundert maßgeblich die Ikonenkunst mit beeinflusst hat. Die kleine Ikone misst lediglich 72 x 50 Zentimeter, der Ausschnitt, der das Himmlische Jerusalem zeigt, ist 30 x 16 lediglich Zentimeter groß. Die Galerie schätzt, dass die Arbeit aus dem Jahr 1850 stammt. Es handelt sich um ein Arkadenjerusalem, also die bei weitem häufigste Darstellungsform des Himmlischen Jerusalem in der Ostkirche. Die Mauern wurden jeweils naturalistisch als einzelne Ziegelsteine aufgemalt. Man sieht unten eine sich horizontal ziehende Mauer, aus der drei Pfeiler nach oben wachsen, wo sie mehrere Arkaden bilden. Typisch für die Zeit ist der schwarze Hintergrund der Arkaden, der den einstigen goldenen Hintergrund vollständig verdrängt hat. Einer der Pfeiler ist übrigens schon auf der rechten Seite zu finden, wo er etwas isoliert im Raum steht. Vor und in den Arkaden findet man auch hier zahlreiche Heilige. Eine Besonderheit ist das weiße Wolkenband, welches sich hier wie ein Blumenmeer oder wie Badeschaum ausbreitet. Diese und andere Details belegen: Es ist keinesfalls so, dass Maler Ikonen immer wieder kopiert hätten und Individualität nicht geschätzt gewesen sei. Ganz im Gegenteil: Kaum eine Ikone gleicht der anderen, es gibt ständig neue Einfälle, Besonderheiten, Neuerungen usw. Es wäre einmal interessant, die Legende einer dynamisch-individuellen westlichen Sakralkunst versus einer statischen Kunst des Ostens näher auf ihre Genese und Motive hin zu untersuchen.
Claus Bernet: Ikonen des Weltgerichts, Norderstedt 2015 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 37).