Um 1460/70 entstand in Nordengland im Umkreis der Kartäusermönche eine bemerkenswerte Handschrift. Seit 1905 wird diese als Additional MS 37049 in der British Library in London aufbewahrt. Es ist eine illustre Handschrift mit Dialogen, Legenden, Reiseberichten, Chroniken und Visionsberichten zu ganz verschiedenen christlichen Themen, wie beispielsweise dem Leben des Bischofs Hugo von Grenoble, der Passion Christi oder dem Weltenende. Das Himmlische Jerusalem ist dabei auf fol. 17r, 24v, 65v, 71r, 73r, 77v, 79v und 80v mehrfach zu finden.
Die erste Darstellung der Gottesstadt auf fol. 17r zeigt ein traditionelles Weltgericht mit Christus als Richter auf einem Regenbogen. An der linken Seite streben einige Gerettete zu einer Pforte, um in das Neue Jerusalem zu gelangen.
Fol. 24v zeigt Eigenartiges. Die Miniatur befindet sich auf einer Seite, die von den Seelen im Fegefeuer berichtet. Christus hat sich mit wenigen Geretteten in die runde Gottesstadt zurückgezogen. Sie ist mit einem gotischen Strebebogen überspannt, so dass sie auch wie eine Krone aussieht. Durch das kleine Tor mit zwei Flügeln werden weitere Gerettete in einem Korb aus dem Fegefeuer nach oben in die Stadt gezogen, dank dreier Priester und Mönche, die am anderen Ende das Seil über einen Flaschenzug ziehen.
Die folgende Repräsentation des Himmlischen Jerusalem als kleine Festung, mit hohen Mauern, zwei Seitentürmen, mittigem Tor und Christus im Zentrum der Stadt wird noch mehrmals zu sehen sein. Hier wurden dem Tor zwei rechteckige Fenster beigegeben, hinter denen es grün schimmert. Auf fol. 65v befindet sich unter der Gottesstadt eine Leiter (hier nicht zu sehen), auf der Propheten nach oben in die Stadt steigen.
Im folgenden Bild auf fol. 71v scheint die Schlacht gewonnen, Christus triumphiert über der Stadt in Siegerpose mit Reichsapfel. Durchs Tor, dessen Fallgitter bereits nach unten gehen, flüchten sich letzte Gerettete. Als derart schlanker Turm ist die Gottesstadt bislang noch nicht gezeigt worden, der unbekannte Illustrator bedient sich nicht der Tradition, sondern ist ungemein innovativ und überrascht mit vielen Einzelheiten, nicht nur in Bezug auf Jerusalem.
In einem weiteren Bild auf fol. 73r finden wir erneut Christus in einer hohen Festung verschanzt. Diesmal erscheint er weniger siegessicher. Vor dem Haupttor, welches noch blau im Hintergrund hervorscheint, vertreibt ein Engel mit einer Lanze den Teufel. Ganz oben verstecken sich neben Christus auch wenige Gerettete, die aufgrund der Gefahr die Köpfe niedrig halten.
Fol. 77v ist eine komplexe Darstellung des Himmlischen Jerusalem. Im Zentrum befindet sich links Maria als Braut, hier mit einer Tiara bekrönt, unfreiwillig ein Argument, dass es einmal einen weiblichen Papst (Päpstin) gegeben hat. Ihr gegenüber sitzt Christus, der ebenfalls mit einer dreifachen Krone versehen ist. Oben sind die beiden Hauptfiguren von roten Engeln begleitet. Nach unten findet man weitere Engel, die in Zweier- oder Dreiergruppen eingeteilt sind. Das Fundament der Stadt sind unten die zwölf Edelsteine (vgl. MS Harley 4972), deren lateinischer Name unter jeden Stein geschrieben ist.
Das folgende Bild auf fol. 79v ist quasi eine Nahaufnahme: Wieder sehen wir Christus, umgeben von Engeln, den Geretteten und den vier Evangelisten in jeweils einem Tondo. Das Tor zur Stadt inmitten der niedrigen, gedrungenen Mauer scheint geschlossen. Statt dem Fundament sehen wir nun die Aufmauerung mit einer Schicht von drei Quadern.
Zuletzt erscheint das Himmlische Jerusalem nochmals als frühes Zweiwegebild auf fol. 80v: Christus und Maria dominieren erneut die Gottesstadt, zwei weitere Gerettete zu ihren Seiten sind nur schwach zu erkennen. Engel bewachen den Zugang, dem sich fünf der klugen Jungfrauen nähern. Fünf törichten Jungfrauen auf der rechten Seite, deren Licht erloschen ist, wird gewaltsam der Zugang verwehrt. Die Gottesstadt ist nicht allein Ziel- und Endpunkt der Heilsgeschichte, sondern quasi ein omnitemporärer Gegenstand der unmittelbaren Umgebung. Die Geschichte um die Stadt ist eingebettet in unterschiedliche Erzählungen und dient als Merkpunkt für Gottes Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Allerdings: Nur ganz wenige finden in dieser Stadt Aufnahme; die allermeisten Menschen erreichen dieses Ziel nicht. Die Stadt kann sich nicht auf ihre Mauern und Türme verlassen, sondern allein Christus ist der Garant für ihre Sicherheit. Er ist meist als Herrscher und Sieger dargestellt, ganz im Gegensatz zu vielen anderen Szenen aus dieser Handschrift, die eher das Leiden und den Tod Christi zum Thema haben.
Brant Lee Doty: Add. MS. 37049. An edition of British Museum manuscript Additional 37049. A religious miscellany, Lansing 1969.
James Hogg: Unpublished texts in the Carthusian northern middle English religious miscellany, British Library MS. ADD. 37049, in: James Hogg (Hrsg.): Essays in honour of Erwin Stürzl on his sixtieth birthday, 1, Salzburg 1980, S. 241-284.
James Hogg (Hrsg.): The illustrations, Salzburg 1981 (An illustrated Yorkshire Carthusian religious miscellany, B.L. Add. MS 37049, 3).
Douglas Gray: London, British Library, Additional MS 37049 – a spiritual encyclopedia, in: Helen Barr, Ann M. Hutchison (Hrsg.): Text and controversy from Wyclif to Bale. Essays in honour of Anne Hudson, Turnhout 2005, S. 99-116.