
Saint Michel ist eine spätgotische Kapelle in Epinal, einer Kleinstadt in den Vogesen. Der Ort und seine Verlage sollten viele Jahrhunderte später bekannt werden für Darstellungen des Himmlischen Jerusalem auf kolorierten Bilderbögen im Rahmen der Zweiwegebilder. Mit den Zweiwegebildern ist der Name Epinal fest verbunden, und nur wenige wissen, dass es dort ein viel älteres Himmlisches Jerusalem aus dem Spätmittelalter gibt.
Die umfassenden Malereien unter der Holzkonstruktion der Decke sind in hellen gelben und rötlichen Pastelltönen gehalten. Sie stammen noch aus der Erbauungszeit um 1480. Damals befand sich die Kapelle noch weit außerhalb der Stadt in Nähe des Friedhofes in einer Einsiedelei. Auch heute noch steht die Kapelle auf einem Berghang mitten in einer Grünanlage hoch über der Stadt.
Thema der Malereien im Altarbereich ist das Weltgericht. Hier ist einmal der Patron der Kirche, der Erzengel Michael, übergroß dargestellt, und das Himmlische Jerusalem auf einem der rechten Gewölbekappen als Himmelspforte mit daran angrenzender Stadt. Bemerkenswert ist zunächst die Position der Stadt auf der rechten Seite, wo ansonsten die Hölle dargestellt ist. Diese ungewöhnliche Position erklärt sich aus der Gesamtkomposition der Fresken: vier Kappen standen über dem Altar im Chorbereich zur Ausmalung zur Verfügung.
Die erste, hintere Kappe zeigt Christus als Weltenrichter. Die beiden seitlichen Kappen zeigen jeweils zwei Engel, die mit Posaunen das Gericht eröffnen (die ersten vier Posaunen, Johannesoffenbarung Kap. 8, Vers 6-9). Alle diese Malereien können vom Kirchenschiff, von der Gemeinde aus, korrekt gesehen werden. Bei der vorderen, letzten Kappe wurde das Bild um 180 Grad gedreht, mit der Folge, dass es vom Kirchenschiff aus betrachtet nun auf dem Kopf steht. Von dort gesehen steht Jerusalem allerdings auf der linken, „guten“ Seite. Nur der Priester konnte vom Altar aus die Stadt, Petrus und den Heiligen Michael korrekt sehen.
Viele Jahre war allerdings hier kaum etwas zu sehen, da der Bau seit der Französischen Revolution verfiel und nicht mehr als Kirche genutzt wurde. Erst 1993 konnte er renoviert werden – ein Jahr zuvor war er gerade in die französische Denkmalliste eingetragen worden. Dabei konnte festgestellt werden, dass die Malereien zu keiner Zeit übertüncht waren; wir haben hier also noch den unverfälschten Originalbestand vor uns.
Dabei fällt vor allem die Himmelspforte auf: Die Tür der Pforte wird schwungvoll von Petrus mit seinem Schlüssel geöffnet – am Boden sind noch Spuren dieses Schwungs zu sehen, die auch den Lebensweg markieren könnten, oder Licht, welches aus der Stadt in die Welt strömt. Auf dem Dach der Pforte ist ein kleines Miniaturhaus gesetzt, das durch ein Kreuz auf dem Satteldach als Kirche markiert ist. Diese ungewöhnliche Bekrönung der Pforte mit einem Haus ist auffällig, möglicherweise gab es in der Architektur ähnliche Vorbilder, oder die Künstler haben sich von älteren Miniaturen inspirieren lassen. Falls sich weitere solche Bauten finden ließen, wäre dies ein wichtiger Hinweis zur Herkunft der Künstler. Über diese ist allein bekannt, dass es eine Gruppe von Wanderkünstlern aus dem Alpenraum gewesen sein soll. Nach Fertigstellung der Kapelle müssen sie weitergezogen sein, andere Werke sind von ihnen in Epinal nicht bekannt.
Auguste Michel: Petit guide du visiteur à l’église Saint-Maurice d’Épinal, Épinal 1926.
Jean Bossu: Rue Saint-Michel. Une chapelle lui donna son nom, in: Chronique des Rues d’Épinal, 3, 1984, S. 162-165.
Ilona Hans-Collas: La peinture murale en Lorraine du XIIIe au XVIe siècle, 5, Strasbourg 1997.
Claus Bernet: Denkmalschutz, Denkmalpflege und UNESCO-Weltkulturerbe, Norderstedt 2020 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 47).