Henry Dunant (1828-1910): „Diagramme symbolique“ (um 1890)

Manche stellen sich Henry Dunant (1828-1910) als Manager einer umfangreichen Hilfsorganisation vor. Dies war er sicherlich auch gewesen, aber er würde als Charismatiker, Neupietist und Individualist heute beim Roten Kreuz wenig Anklang finden. 1859 war Dunant Zeuge der blutigen Schlacht bei Solferino gewesen und fasste einen eindringlichen Bericht darüber ab, als dessen Folge das Rote Kreuz in Genf gegründet wurde. Im Jahr 1901 erhielt Dunant zusammen mit dem Pazifisten Frédéric Passy (1822-1912) den ersten Friedensnobelpreis verliehen. Dazwischen liegen traurige Jahre: 1868 wurde Dunant vom Genfer Handelsgericht wegen betrügerischen Konkurses verurteilt, es folgte ein dramatischer sozialer Abstieg. 1887 lebte Dunant in Heiden, einem idyllischen Biedermeierdorf im Appenzellerland. Dort logierte er im Gasthof „Paradies“ der Familie Stähelin. Es ist kaum bekannt, dass Dunant zu dieser Zeit immer wieder Phasen geistiger Umnachtung durchlitt. Unbequeme Fragen quälten ihn: Was ist der Sinn des Lebens? Was tun wir in der Welt? Warum leben wir überhaupt? Er lebte zurückgezogen, versank mehr und mehr in religiös-mystischen Gedanken, prophetischen Wahnvorstellungen und war stark vom Erweckungsprediger Louis Gaussen (1790-1863) beeinflusst. Nebenher beschäftigte er sich auch mit Malerei und schuf gigantische Panoramabilder, die mit figürlichen Details und handschriftlichen Anmerkungen überzogen sind. Es existieren Visionsbilder der gesamten alt- und neutestamentlichen Heilsgeschichte, deren Erstellung monatelange minutiöse Konzentration erfordert haben dürften. Wahrscheinlich wurde diese Malerei therapeutisch vom behandelnden Arzt Hermann Altherr (1848-1927) beaufsichtigt. Im örtlichen CVJM hält Dunant Bibelstunden und beteiligt sich an den Treffen eines Konventikels des Pastors Eduard Frauenfeld, bei denen er anhand der Gemälde abendfüllende Vorträge über die endzeitlichen Ereignisse hielt.
Auf zweien dieser Werke des Genfer Instituts Henry Dunant, die den Namen „Diagramme symbolique chronologique de quelques Prophéties des Saintes-Ecritures par un Chrétien Suisse“ und „Diagramme symbolique chronologique de quelques Prophéties des Saintes-Ecritures (Noé)“ tragen, finden sich jeweils unten links auch Darstellungen des Himmlischen Jerusalem.

Die beiden Varianten sind Ausschnitte aus einem erheblich größeren Planigramm (100 x 80 Zentimeter) aus Tinte, Tusche und Aquarell auf Papier. Sie ähneln sich erheblich: Beide Visionsbilder stellen die Stadt grün dar, in quadratischer Form, mit zwölf offenen Toren. Über beiden Städten spannt sich ein Regenbogen, das alttestamentliche Symbol der Versöhnung Gottes mit den Menschen. Auch scheinen Paradiesvorstellungen mit eingeflossen zu sein, darauf deutet etwa der früchtetragende Baum in einer der Städte. Am Ende der Heilsepochen sind dann Tod und Teufel vernichtet; Christus übergibt sein Reich seinem Vater, der alles durchdringt und die Welt in Liebe aufgehen lässt.

„Diagramme symbolique chronologique de quelques Prophéties des Saintes-Ecritures (Noé)“ zeigt sogar noch ein zweites Himmlisches Jerusalem in einer kreativen, nie dagewesenen Form. Es besteht aus zwei übereinander gesetzten Pyramiden. Eine zeigt mit der Spitze nach unten und besteht aus zwölf Edelsteinschichten, die andere nach oben und besteht aus zwölf sich verjüngenden Stockwerken. Ganz oben auf die Spitze wurde der Lebensbaum gesetzt.

Felix Christ: Henry Dunant. Leben und Glauben des Rotkreuzgründers, Hamburg 1981.
Juan Jose Gomez de Rueda: Mais… qui e Henry Dunant? Fondateur de la Croix Rouge, Tenerife 1981.
Roger Durand: Diagramme symbolique chronologique de quelques prophéties des Saintes Ecritues, in: Bulletin de la Société Henry Dunant, 7, 1982, S. 7-49.
Marc Descombes: Henry Dunant. Finanzmann – Phantast – Gründer des Roten Kreuzes, Zürich 1988.
Roger Durand: Henry Dunant und Heiden, Genève 1992.
Daniel Regli: Die Apokalypse Henry Dunants (1828-1910). Das Geschichtsbild des Rotkreuzgründers in der Tradition eschatologischer Naherwartung, Bern 1994.
Ethel Kocher, Hans Amann: Henry Dunant. Sein wechselvolles Leben und seine erstaunlichen Visionen, Heiden 2003.

 

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