Es ist erstaunlich: Die Altgläubigen (auch Altorthodoxen) sind eine kleine Minderheit der russisch-orthodoxen Lebenswelt, die zudem zeitweise verfolgt und vielfach benachteiligt sowie mindergestellt waren. Dennoch hat gerade diese Gruppierung, deren Mitglieder zudem finanziell eingeschränkt waren, eine überraschende Zahl hochwertiger und anspruchsvoller Ikonen hervorgebracht. Dieses Werk ist ein Beispiel dafür. Es war bis 1926 im Stroganov-Museum ausgestellt und kam dann in das Staatliche Historische Museum von Moskau (Inventarnummer ГИМ 58394 (ДРЖ) И VIII 3193).
Die rotgelb gehaltene Ikone hat eine Gesamtgröße von lediglich 55 x 42 Zentimeter, und dennoch sind auf ihr alle wesentlichen Bildmotive eines Weltgerichts der Ostkirche vereint: Rechts in der Ecke befindet sich die Hölle, unten die Schlange, links unten das Paradies mit einer Renaissance-Pforte, links seitlich der Aufstieg zum Himmlischen Jerusalem und ganz oben links das Himmlische Jerusalem selbst. Eine Besonderheit ist, dass sich die Architektur, beginnend mit den Arkaden, über zwei Strebepfeiler ungewöhnlich weit nach unten zieht, fast bis an die Pforte des Paradieses. So entsteht ein gewaltiges Himmelstor, in welchem Engel menschliche Seelen wie in einem Fahrstuhl nach oben bringen (Typus Fahrstuhlikone). Es ist an verschiedener Stelle mit barocken Schmuckelementen ausgestattet, die in Russland noch im gesamten 19. Jahrhundert beliebt waren. Ohne diesen Unterbau wäre das Neue Jerusalem mit vier Arkaden ähnlich wie auf vielen Weltgerichtsikonen aus Zentralrussland (19. Jh.). Eine weitere Besonderheit sind die Maße: Als eine der ganz wenigen Weltgerichtsikonen hat diese eine größere Breite als Länge.
Елена Михайловна Юхименко: Неизвестная Россия. К 300-летию Выговской старообрядческой пустыни, Москва́ 1994.
Claus Bernet: Ikonen des Weltgerichts, Norderstedt 2015 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 37).