
Im Jahr 2004 wurde dem Ikonenmuseum in Recklinghausen von Medizinprofessor Karlheinz Idelberger (1909-2003) und seiner Frau eine Weltgerichtsikone vermacht (Inventarnummer 937). Das Werk aus Eitempera auf Holz stammt ursprünglich aus der südrussischen Stadt Newjansk und hat eine Gesamtgröße von 106 x 81 Zentimetern. Eine frühere Datierung um 1780 ist nicht wahrscheinlich, eher handelt es sich um eine Arbeit aus den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts.
Meist befindet sich das Himmlische Jerusalem auf solchen Weltgerichtsikonen in der oberen linken Ecke. Hier jedoch zieht sich der Bereich des Himmlischen Jerusalem im gesamten oberen Bereich von links nach rechts (Detail 24 x 80 Zentimeter). Zahlreiche Heilige, Frauen wie Männer, sitzen an langen Tischen und genießen dort das ewige Abendmahl. Die Tische stehen auf einer goldenen Mauer. Von der Mauer ausgehend trennen gelegentlich Pfeiler die Heiligen und fassen sie in Gruppen zusammen. Diese Konzeption ist ein Rest des ehemals beliebten Arkaden-Jerusalem. Hier ist diese Struktur durchaus noch zu erkennen. Die Bögen über den Heiligen, die eine Arkade komplett gemacht hätte, wurde hier aber weggelassen. In der Mitte dominiert eine prächtige Pforte, mit zwei Spiegelmedaillons und zahlreichem weiteren Dekor bekrönt. Diese Architekturdetails wie auch andere Bildelemente stehen zwischen dem späten Barock und dem frühen Klassizismus. Seitlich führt die erwähnte Mauer an zwei weitere Tore. Diese sind ähnlich wie das Haupttor aufgebaut, jedoch kleiner, und dienen dazu, neue Heilige in die Stadt einzulassen. Über den Heiligen an den Tischen sind übrigens weitere Heilige in Gruppen über den Raum verteilt. Dazwischen finden sich immer wieder kleine Büsche: eine Reminiszenz an den Paradiesgarten.
Wenig später, um 1825, entstand im Kreis der Altgläubigen diese Ikone. Aufbewahrt wird sie heute in Vetka (Ветке/Weißrussland), im Museum der Altgläubigen und belarussischen Volkstraditionen. Der formale Aufbau und viele Details sind mit der Weltgerichtsikone aus Recklinghausen identisch. Das betrifft zunächst einmal die zentrale, ebenfalls symmetrische Anordnung der Hauptpforte, sogar die Taube ist auf beiden Werken zu finden. Ebenfalls ist die Auswahl und Anordnung der Heiligen, bis auf minimale Abweichungen, identisch, ebenso die Beschriftung der Ikone oben. Es gibt jedoch eine entscheidende Veränderung. Der lange Abendmahlstisch wurde hier durch ein anderes Bildelement ersetzt, welches ebenfalls den himmlischen vom irdischen Bereich trennt: ein transparenter Zaun, der allein durch die zentrale Pforte unterbrochen ist. Er besteht aus hölzernen oder steinernen Säulen mit einem Knauf, wobei die Räume zwischen den Säulen mit vier bis sechs Füllstäben besetzt sind. Eine derartige „Mauer“ des Himmlischen Jerusalem ist von keiner weiteren Ikone bekannt.
Eva Haustein-Bartsch: ‚Nicht nur vom Himmel gefallen…‘. Ankäufe und Schenkungen für das Ikonen-Museum Recklinghausen seit 1983, Recklinghausen 2004.