
Wolga-Ikonen aus dem 17. und 18. Jahrhundert weisen im Allgemeinen eher unauffällige Jerusalemsdarstellungen auf. Diese insgesamt 156 x 122 cm große Ikone aus der Mitte des 17. Jahrhunderts präsentiert links oben ein sehr bescheidenes, aber auch ungewöhnliches Himmlisches Jerusalem (Ausschnitt 50 x 30 cm). Man findet hier einmal nicht Arkaden, sondern eine Agglomeration ineinander verschachtelte und verschobene Fragmente von Bauten, zwischen denen zusätzlich schräge Mauerteile gesetzt sind. Es ergibt sich keinesfalls eine erkennbare Stadt, sondern ein verwirrendes Konglomerat, allein durch die grüne und rote Farbe strukturiert. Verdeckt wird ein Teil der Architektur durch die von Wolken umgebene Marienerscheinung links, die von zwei Engeln begleitet ist. Vor (nicht im) Himmlischen Jerusalem haben sich zahlreiche Heilige vor einem weißen Band versammelt. Dies ist ein langer Tisch, an dem das Ewige Abendmahl gefeiert wird.
Das Kunstwerk war einst für eine russisch-orthodoxe Kirche angefertigt worden; über den Künstler oder den näheren Entstehungshintergrund wissen wir so gut wie nichts. Es wäre heute längst technisch möglich, anhand von chemischen Laboranalysen der Temperafarben Herkunft und Malschulen zu bestimmen, doch ein solches Projekt ist bislang an einer Finanzierung gescheitert. Im Jahr 2006 gelangte die Ikone aus der Schweiz in das Museum für russische Ikonen im amerikanischen Clinton (Inventarnummer R2006.13) und ist seitdem Teil der dortigen Ständigen Sammlung.
Vladimir Codikovič: Semantika ikonografii Strašnogo Suda v russkom iskusstve 15.-16. vekov, Ul’janovsk 1995.
Claus Bernet: Ikonen des Weltgerichts, Norderstedt 2015 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 37).