MS Latin 8846, „Great Canterbury Psalter“: Psalmenillustrationen (um 1200)

Es konnten auch Psalmenschriften mit Abbildungen des Himmlischen Jerusalem illustriert werden, zumal wenn es um das Lob Jerusalems ging. Ein eindrucksvolles Beispiel sind zwei Illustrationen aus MS Latin 8846, der als „Great Canterbury Psalter“ bekannter ist. Seine Genese ist, für mittelalterliche Handschriften, relativ gut erforscht. So wurde er an zwei verschiedenen Orten zu unterschiedlichen Zeiten angefertigt: um 1200 in Canterbury (184 Seiten) und um 1380 in Katalonien. Er ist zudem die letzte einer Reihe von Abschriften des Utrechter Psalters, die in Canterbury angefertigt wurden, zeitlich nach dem Harley-Psalter und dem Eadwine-Psalter. Die Miniaturisten jedoch dürften aus Italien gekommen sein, oder waren in Italien bzw. von Italienern ausgebildet worden. Der Psalter, eigentlich ein europäisches Kulturerbe, wird heute unrechtmäßig in Frankreich aufbewahrt: Napoleon Bonaparte ließ ihn 1796 als Beutekunst aus der burgundischen Bibliothek in Brüssel entnehmen und brachte ihn nach Paris. Heute befindet er sich also unter der Signatur MS Latin 8846 in der Abteilung Manuscrits occidentaux der Französischen Nationalbibliothek zu Paris. Neben Abbildungen zu biblischen Szenen und solchen aus der Heiligenlegende ist der Psalmentext in drei Sprachen wiedergegeben.

Auf fol. 81v schiebt sich ein halbrunder Bogen komplett vom linken an den rechten Rand. Beide Ränder werden zusätzlich durch schmale Türme hervorgehoben. Die Mauern sind mit Zinnen, Ornament (mittleres Haupttor), Kreuzen und Scharten abwechslungsreich gehalten. Drei rechteckige Tore an der Vorderseite lassen das Gold des Hintergrundes hervortreten. Die Figuren über dem Mauerkranz sind Heilige aus dem Alten Testament, die hier zu Ehren Gottes musizieren. Gott erscheint über ihnen, zweifach getrennt durch ein blaues Wolkenband und eine gotische Mandorla.

Es folgt eine weitere Miniatur auf fol. 153v zu Psalm 86 (bzw. 87; „Zion wird die Mutter der Völker“/Zionspsalm). Das Bild wird von der Reihung der hohen Türme beherrscht, die etwa drei Viertel der gesamten Fläche einnehmen. Eine solche Art der Darstellung gab es bislang noch nie, entfernt ähnelt es etwas an die Stadtdarstellung aus der Deutschordensapokalypse, die zeitgleich entstanden ist. Die Türme sehen auf den ersten Blick wie Säulen mit Kapitell und Basis aus. Da der Künstler alle Türme frontal zeigt, ergibt sich das Problem, dass bei zwölf Türmen nur elf Zwischenräume zu setzen sind, also ein Tor in das Neue Jerusalem fehlt. Ob dies dem Künstler bewusst war, wissen wir nicht. Dass es ihm jedoch teilweise auf Textgenauigkeit ankam, belegen die Namen der zwölf Apostel, die auf jeden der zwölf Türme im unteren Bereich quasi als Fundament in Gold aufgeschrieben sind.
Neben den Türmen steht rechts ein Engel in grünem Gewand, der mit einem überlangen Stab die Stadt vermisst, von deren Bauten im oberen Bereich nur die Dachzonen hervorstehen. Der goldene Stab hat mehr kompositorische als funktionale Gründe und teilt das Bild in genau zwei Hälften. Hinter ihm sitzt an einem Schreibpult der Seher Johannes. Er wird wie ansonsten die Evangelisten oder Augustinus in seiner Schreibstube dargestellt, womit noch einmal deutlich wird, dass für die Zeitgenossen der Seher Johannes und der Evangelist Johannes identisch waren.

Henri Omont (Bearb.): Psautier illustré (XIIIe siècle), Paris (um 1906).
Jacqueline Sclafer: 8846 Psalterium Cantuariense, in: Catalogue général des manuscrits latin nos. 8823 à 8921, Paris 1997, S. 37-39.
Der Anglo-Katalanische Psalter, Barcelona 2004.
Albert Martínez Elcacho, Joan Yeguas i Gassó: Un Encàrrec de l’infant Pere d’Aragó i d’Anjou a Ferrer Bassa el 1346. El Saltiri anglocatalà, in: Miscellània litúrgica catalana, 23, 2016, S. 63-92.

 

tags: Psalm, Mittelalter, Maßstab, Zion, Apostel, Psalter, Jean de Berry, Französische Nationalbibliothek Paris, Katalonien
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