Wenig spektakulär erscheint zunächst eine kleine Himmlische-Jerusalem-Vignette von Annie Vallotton. Die schwarzweiß gehaltene Zeichnung wurde im Jahr 1966 für eine New Yorker Bibel-Erstausgabe geschaffen. Seitdem wurde sie in vielen Ausgaben der „Good News Bible“ sowie dem „New Testament“ verwendet, auch außerhalb des englischen Sprachraums. Sie ist recht beliebt, wohl wegen des Einfalls, das Stadtinnere als Kristallansammlung darzustellen, die weit nach außen strahlen. An den zwei sichtbaren Seiten der Außenmauern kann man je drei Engel sehen, deren Körper gleichzeitig als Tore in die Stadt fungieren – ebenfalls ein einzigartiger, neuer Einfall in der jahrtausendealten Jerusalems-Ikonographie, der der Künstlerin zunächst nicht bewusst war: „Mit dem Neuen Jerusalem gab es große Schwierigkeiten. Die ersten Entwürfe zeigten die Edelsteine und einen Regenbogen, was jedoch abgelehnt wurde. Schließlich entdeckte ich, dass die Kristalle eigentlich Häusern mit Dächern nicht unähnlich sind. Der erste Entwurf gelang sogleich und fand allgemeine Zustimmung, sowohl von Geistlichen wie auch von Kindern. Immer wieder wird mir geschrieben, wie eindrucksvoll diese Bilder empfunden wurden; eine Künstlerin aus den Niederlanden hat dieses Motiv schließlich in Öl ausgeführt, es war viele Jahre in Amsterdam ausgestellt“.
Annie Vallotton (1915-2013) war die Tochter eines schweizerischen Schriftstellers, dessen Cousin der Maler Félix Vallotton (1865-1925) war. Sie arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg in deutschen Flüchtlingslagern, die sie mit freundlichen Fresken für die Lagerinsassen zu verschönern versuchte. In den 1960er Jahren wurde sie von dem Amerikaner Eugene Nida (1914-2011), der für die American Bible Society tätig war, nach Stuttgart gebeten und für die Illustration der Good News Bible sowie einer Kinderbibel gewonnen. Über fünfhundert Illustrationen zu fast jedem biblischen Thema entstanden in den nächsten vierzig Jahren, viele in modernen Bibelausgaben zu finden.
Claus Bernet: Zeichnungen, Norderstedt 2014 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 19).
