Diese auf das Jahr 1855 datierte gerötete Kreidezeichnung hat den vollständigen Titel „Saint Jean à Pathmos“ („Der Heilige Johannes auf Patmos“). Sie stammt von dem römisch-katholischen Kirchenmaler Sébastien Norblin (1796-1884), einem Vertreter der klassischen Akademieschule Frankreichs. Johannes sitzt auf einer umgefallenen Säule als ein Symbol für die alte, auch heidnische Welt, ebenso aber auch ein Hinweis auf Patmos als Bestandteil der hellenistischen Kultur. Mit großen Augen blickt er den Betrachter suggestiv an, mit einer Hand weist er auf die Stadt im Hintergrund, mit der anderen Hand hält er eine Steinplatte. Mit dieser Platte und der Geste erinnert er an Moses, der ein Vorgänger des Johannes war: Wie dieser das Gelobte Land sah, aber nicht mehr betreten konnte, sah Johannes später das Neue Jerusalem. Über der Figur erscheint in den Wolken ein klassizistisches Himmlisches Jerusalem, das stilbildend für weitere Stadtdarstellungen der kommenden Jahre wurde, bis in das 20. Jahrhundert (vgl. etwa die Zeichnung auf S. 231 von „Das Geheimnis enthüllt“ von 1911).
Die Stadt wird von oben durch die aufbrechenden Wolken bestrahlt, so dass man die Fassaden im Licht gut sehen kann. Links befindet sich ein Stadttor, darüber verjüngen sich gestaffelte Tempelbauten, die oben in einen mächtigen symmetrischen Tempel kulminieren. Christliche Bildelemente wie Engel oder das Lamm Gottes fehlen. 2004 wurde das Bild vom Pariser Auktionshaus Emeric Hahn an eine Pariser Galerie verkauft, eine Vorstudie zu der Kreidezeichnung stand 2017 bei Hahn für 1.000 € zum Verkauf an.
Sébastien Louis Guillaume: Norblin de la Gourdaine, dit Sobeck, Paris 2004.
Paweł Ignaczak: Sebastian Norblin 1796-1884, in: Andrzej Pieńkos, Agnieszka Rosales Rodríguez (Hrsg.): Epoka Chopina, Warschau 2013, S. 101-106.
Claus Bernet: Große Künstler, großartige Kunst, Norderstedt 2020 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 48).