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Motiv Lebensbaum (18. und 19. Jh.)

Der Lebensbaum, der schon seit Jahrhunderten zum Jerusalem-Repertoire gehört, wird in der zweiten Hälfte des 19. Jh. plötzlich zum Hauptthema. Das Flugblatt oben ist die vermutlich älteste Variante dieser Gattung und wird auf die Zeitspanne von 1750 bis 1780 datiert. Dieses Blatt der Größe 38 x 27 cm soll nach einer Idee von Doleman I. entstanden sein und wurde von Thomas Kitchin (1719-1784) in London gedruckt.
Thomas Kitchin oder Firmen wie „Bowles & Carver“ waren auf den professionellen Verkauf von solchen Drucken spezialisiert. „Catchpenny prints“ hat man sie verächtlich genannt, also Drucke, die einem das Geld aus der Tasche ziehen. Unter der Massenware für die Londoner Haushalte waren auch diese einfarbigen oder handkolorierten Stiche, die den Titel „The Tree of Life” tragen. Einige dieser Drucke haben sich im British Museum erhalten (oben Nummer 1906,0823.40). Es gibt zahlreiche Varianten, als die Massenproduktion mit diesem Stich dann zu Beginn der 1780er Jahre einsetzte. Zu sehen ist das Himmlische Jerusalem vor einer auf- oder untergehenden Sonne. Die Stadt besteht aus zweistöckigen barocken Pagoden, die durch Galerien miteinander verbunden sind. Vom Stadtzentrum aus, dem Gotteslamm, wird der Baum des Lebens getränkt, der sich im Zentrum des Bildes befindet. Der Lebensbaum ist (in Anlehnung an Apokalypse 12, 2) als „Tugendbaum“ gestaltet: An ihm hängen zwölf Früchte, wie „Zuversicht“, „Mäßigung“, „Gehorsam“ und vielerlei weitere christlich-moralische Handlungsmaximen.
Die Stadt, die einem barocken Garten ähnelt, liegt hinter einer schmalen Mauer. Vor den Toren finden sich wenige Menschen ein, die meisten landen hingegen in der Hölle, die rechts unten dargestellt ist. Die Prediger in der Menschenmenge versuchen fast vergeblich, die Sünder auf den rechten Weg zu bringen. Zwei der Prediger können als George Whitefield (1714-1770) und John Wesley (1703-1791) identifiziert werden, was auf die enge Verbindung von Methodisten und Milleniaristen im 18. Jahrhundert deutet.

 

Eine leicht veränderte Fassung, ebenfalls nur 36 x 26 cm groß, erschien um 1770 (British Museum, 1868,0808.4623). Ein zentraler Unterschied ist, dass der Baum jetzt mit dem gekreuzigten Christus behangen ist. Damit wollte man nochmals die Beziehung des Lebensbaumes zu Christus verdeutlichen: Zwar gibt im Neuen Jerusalem der Lebensbaum schöne Früchte, aber die eigentliche Kraft dahinter ist Christus oder Gott. Die Konzeption wurde ansonsten beibehalten, aber das Blatt wurde komplett neu gestochen. Das konnte man sich nur leisten, wenn man sicher war, dass sich dieser Gegenstand gut verkaufen würde.

 

Die dritte Fassung (35 x 25 cm) entstand zwischen 1770 und 1800 in London, wo sie von Bowles & Carver herausgebracht wurde (British Museum, 1868,0808.4624). Eine spiegelverkehrte Fassung erschien viele Jahre später, 1846, in den USA bei Kelloggs & Thayler in New York (Library of Congress). Schon wieder wurde das detailreiche Kunstwerk komplett neu gestochen. Man kann es von der vorherigen Fassung am leichtesten dadurch unterscheiden, dass die horizontalen Linien des Hintergrundes hier weggelassen wurden. Die Bewohner, die bislang stets die Stadt belebten, wurden komplett weggelassen. Von dieser Fassung existiert auch das früheste kolorierte Blatt (British Museum, 00507787001).

 

Eine vereinfacht gehaltene Fassung brachte George Thompson (1793-1839) am 30. September 1804 in London heraus (British Museum, 2000,0930.43). Sie hat eine Gesamtgröße 53 x 43 cm, ist also geringfügig breiter als ihr Vorgänger. Ins Auge fallen natürlich die roten Früchte, die zu einem tugendreichen Leben motivieren sollen, als dessen Lohn der Gläubige ja in das Neue Jerusalem zu gelangen hoffte. Die Hölle ist übrigens von rechts nach links verschoben. Vielleicht auch dadurch sind die Pforte und der Hauptweg durch die Stadt nun rechts zu finden. Die Stadt wird auch wieder bewohnt, doch nun sind es Engel, die emsig umherlaufen. Die Architektur blieb unverändert, allein die vier Pagoden wurden mit roter Farbe hervorgehoben, aber nicht aus inhaltlichen, sondern allein aus kompositorischen Gründen.

 

Eine grob kolorierte Fassung als Holzschnitt mit violetten Früchten wurde von James Catchnach (1792-1841) um 1825 in London auf den Markt gebracht (hier lediglich Ausschnitt, Gesamtgröße 49 x 35 cm, British Museum, 1992,0125.32). Über der Stadt steht in einer Schmuckgirlande geschrieben „The Tree of Life“ („Der Baum des Lebens“). Das Trinitätssymbol, das sich bislang immer über dem Baum befand, wurde hier reduziert zugunsten einer aufgeschlagenen Bibel. Wieder einmal wurde der Baum in der Form verändert und ähnelt hier einem Nadelbaum – gleichgeblieben sind aber seit der Urfassung die zwölf Früchte samt ihrer Beschriftung.

 

Die nun folgende Weiterentwicklung des Lebensbaums findet ausschließlich in den USA statt, wo der Gegenstand unter frommen Einwanderern anscheinend länger beliebt war als in Europa. Dieses ist die erste in den USA gedruckte Fassung (Library of Congress, Washington, 2003656528). Das Blatt der Größe 36 x 26 cm wurde 1845 bei E.B. & E.C. Kellogg in New York gedruckt. Damit sind nun bereits etwa einhundert Jahre seit der Erstfassung vergangen, und dennoch ist die Stadtdarstellung kaum verändert worden, was belegt: In den USA wollte man es genauso machen wie in Großbritannien; nicht Innovation war das Gebot der Stunde, sondern Imitation.

 

Die Nachfrage in den USA war enorm, denn schon ein Jahr darauf wurde eine neu gestochene Fassung angeboten (Library of Congress, Washington, 2003654137). Diese wurde ebenfalls in New York gedruckt, aber diesmal von J. Baillie. Es ist eine der seltenen Abbildungen, die einen grünen Lebensbaum mit grünen Früchten zeigt.

 

Eine weitere US-amerikanische Fassung des Motivs „Lebensbaum“ befindet sich im Washingtoner National Museum of American History (DL 60.2943). Diese ist der 1845er-Fassung sehr ähnlich, die in New York entstanden ist, so dass man annehmen darf, dass diese Lithographie kurz zuvor oder kurz danach auf den Markt kam. Die Tintenzeichnung ist insgesamt 30 x 22 cm groß. Eine Besonderheit ist wohl, dass der Lebensbaum des Himmlischen Jerusalem hier 24 Früchte trägt. Schon bei der Urfassung waren, kaum sichtbar, zwischen die Blätter theologische Grundbegriffe eingeschrieben, die hier zu Früchten ausgearbeitet wurden. Auch ansonsten fehlte es am Künstler an theologischem Wissen: In der Mitte der Stadt befindet sich stets das Lamm Gottes auf seinem Thron. In Unkenntnis des Gegenstands hat der Künstler eine fantasiereiche Skulptur eingefügt, die Henry Moore zu Ehren gereicht hätte.

 

Um 1870 tat sich etwas mit dem Lebensbaum. Er steht nun nicht mehr mitten im Neuen Jerusalem, sondern in einer paradiesischen Auenlandschaft. Belebende Elemente sind Engel, die den Baum flankieren, und eine Friedenstaube in seinen Ästen. Die Stadt ist in den rechten Hintergrund getreten und hat sich vollständig verändert. Die ehemaligen Pagoden sind ebenso verschwunden wie die geradlinigen Bauten. Dafür reihen sich nun wie bei einem Märchenschloss Kuppeln und schmale Türme im Wechsel aneinander, alles in einem gleißenden hellgelben Licht. Eine derartige Darstellung mit Anklängen zum Paradies und dem Ewigen Tiefrieden war damals das Neueste überhaupt und sollte in den USA für viele Jahrzehnte populär bleiben. Die handbemalte Lithographie ist aus dem New Yorker Verlagshaus von Nathaniel Currier und James Ives (1824-1895). Das Exemplar stammt aus der Library of Congress, Washington, 2002697362.

 

Ives fand anscheinend Gefallen an seiner Fassung, obwohl Lebensbäume etwas aus der Mode gekommen waren. 1892, drei Jahre vor dem Tod des Verlegers, entstand eine letzte Fassung in New York. Das Detail zeigt am hinteren Flussufer einen Treppenaufgang in das Neue Jerusalem, welches gleichzeitig ein riesiger Thron zu sein scheint. Umgeben ist die Architektur von Wolken, die nach oben in einen Strahlenkranz übergehen. Links sieht man noch einen Teil des Lebensbaumes mit dreien seiner goldenen Früchte. Es sind aber lange nicht mehr die Tugenden der Urfassung, denn die Moralvorstellungen hatten sich geändert; gefragt waren jetzt Charity, Purity oder Temperance.

Charles Hindley: The history of the Catnach Press, London 1887, Reprint Detroit 1969.
Thomas Gretton: Murders and moralities: English catchpenny prints, 1800-1860 (London 1980).
Currier & Ives. A catalogue raisonné. A comprehensive catalogue of the lithographs of Nathaniel Currier, James Merritt Ives and Charles Currier, incl. ephemera assoc. with the firm, 1834-1907, Detroit 1984.
David Bindman: William Blake and popular religious imagery, in: Burlington Magazine, 128, 1003, 1986, S. 712-718.

 

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