Auf den sogenannten Zweiwegebildern führt ein schmaler Weg in das goldene, freudenvolle Himmlische Jerusalem, ein anderer, breiter Weg direkt in die Verdammnis. Solch ein Schwarzweiß-Denken passte wunderbar in das einfältige Gemüt vieler Pietisten: Sich selbst sah man schon im Himmlischen Jerusalem, die Nachbarn und Kollegen sollten in die Hölle fahren. Sicherlich ist das Zweiwegebild von Charlotte Reihlen bis heute die bekannteste dieser Darstellungen im Kontext des Pietismus in Württemberg.
Charlotte Reihlen (1805-1868) verfiel durch den frühen Tod ihres Sohnes Julius in schwere Depression und widmete sich seitdem der sozialen Arbeit. Sie gründete eine konfessionelle Schule für Mädchen und eine „Dienstbotenschule“. Ihr Hauptwerk ist das Stuttgarter Diakonissenstift, welches sie zusammen mit dem Stuttgarter Stiftskirchenprediger Sixt Karl Kapff (1805-1879) aufbaute. Kapff soll ihr ebenfalls bei der Darstellung der „Worte Jesu“ am Ende der Bergpredigt (Matthäusevangelium Kap. 7, Vers 13-14) geholfen haben. Diese Worte wurden bereits seit dem 18. Jahrhundert gelegentlich in Zweiwegebildern dargestellt. Reihlen konzipierte schon in den 1850er Jahren dazu ein eigenes Bild, zog den Künstler Conrad Schacher (1831-1870) hinzu und fügte entsprechende Texte hinzu. Dieser Text wurde aber nicht, wie bei älteren Zweiwegebildern, auf das Bild geschrieben, sondern in eine eigens dafür angefertigte Broschüre. Dadurch gewinnt das Bild an Übersichtlichkeit. Vermutlich Reihlen wählte als Überschrift „Der breite und der schmale Weg“ und gab das Bild 1867 als Kreidelithographie in den Druck. Vertrieben wurde es zunächst von ihrem Sohn Adolf Reihlen, von der Evangelischen Gesellschaft und vom Verlag J. F. Steinkopf in Stuttgart. 36 Kreuzer hatte man ursprünglich dafür zu bezahlen.
Ungebrochen bis heute ist es die bekannteste Darstellung des Zweiwegemotivs. Das Bild war einst eine visuelle Hilfe bei Predigten in Kirchen und im Freien. Dazu wurden extra Großdrucke angefertigt, um eine gute Sicht zu gewähren. Reihlen wollte damit aber die Menschen nicht ästhetisch erbauen oder gar erfreuen, sondern ermahnen und zur Nachfolge Jesu motivieren.
Das Himmlische Jerusalem hat hier, im Gegensatz zu anderen Zweiwegebildern, seine zentrale Position verloren und ist an den rechten Rand gerückt. Es hat übrigens fast die gleiche Höhe wie die Hölle, die sich unten rechts oder links befindet. Die Himmelsstadt ist recht klein und insgesamt schlecht zu erkennen. Aus den Wolken erhebt sich ein mächtiges, eher abweisendes Fundament, an dem eine kleine Öffnung ein einziges Tor markiert. Hinter der Mauer verlieren sich unendlich viele Häuser bis an den Horizont. Dort erhebt sich eine gewaltige Anhöhe, der Zionsberg. Auf diesem steht, von einem Strahlenkranz umgeben, das Gotteslamm. Bibelverweise um diese Zeichnung machen unmissverständlich klar, dass es sich um die Gottesstadt handelt.
Darunter ist auf dem Weg dorthin, also als letztes Gebäude auf dem schmalen Weg, das Diakonissenhaus zu finden, welches Reihlen aufgebaut hat.
Das Bild wurde sofort in den Niederlanden kopiert, wo das Zweiwegebild ja seine eigentliche Heimat hat. Die holländische Fassung „De breede en de smalle weg“ entstand vermutlich schon 1867/68 (Museum Catharijneconvent, Utrecht). Die Änderungen sind minimal. So wurden die Bibelstellen nicht auf Deutsch, sondern auf Niederländisch angegeben. Viel entscheidender ist, dass dieses die erste kolorierte Ausgabe ist.
Diese Fassung von „Der breite und der schmale Weg“ erschien als kolorierte Kreidelithographie 1873 (LkAS, Inventarnummer 3.006). Sie wurde über einen längeren Zeitraum vertrieben und immer wieder neu aufgelegt. Bezüglich des Himmlischen Jerusalem scheint sich nichts geändert zu haben. Eine Kleinigkeit findet der aufmerksame Betrachter dann doch: Bislang gingen allein von der Engelsfigur über dem Haupttor Strahlen aus, kaum sichtbar, aber vorhanden. Nun auf einmal hat auch das Lamm auf dem Zionsberg Strahlen bekommen.
1883 kam die erste englische Fassung auf den Markt, wovon die British Library ein gut erhaltenes Exemplar besitzt. Man sieht sogleich, dass das gesamte Kunstwerk neu gestochen wurde, wenngleich man inhaltlich nicht viel änderte. Beispielsweise sind bei dem Lamm die Strahlen schon wieder weggefallen, aber es ist jetzt in eine Lichtwolke gehüllt. Deutlicher herausgearbeitet wurden die Engel zu beiden Seiten über der Stadt, die jetzt in Reihen formiert sind und Posaunen mit sich führen.
Eine Parallelausgabe erschien als Lithographie ebenfalls 1883 in London. Sie wurde dort von dem Prediger Gawin Kirkham bei dem Verlag Morgan & Scott vertrieben. Hier findet sich erstmals eine entscheidende Überarbeitung, eigentlich eine Neubearbeitung: Die hohe Mauer und der Zionsberg sind verkleinert worden. Die Engel sind näher an die Stadt gerückt und bilden fast einen geschlossenen Kreis. In diesem gehen an drei Stellen zackige Strahlen aus, von dem Engel, dem Lamm und von einer ungestalteten Stelle darüber, die Gott markiert. Ganz unten ist hier übrigens das oben erwähnte Diakonissenhaus zu sehen.
Drei Jahre darauf erschien bereits eine weitere Ausgabe in England, wieder bei Morgan & Scott in London. Wieder hatte man sich die Mühe gemacht, das gesamte Kunstwerk neu zu bearbeiten, und dennoch kostete ein Exemplar lediglich einen einzigen Penny. Es ist eigentlich eine Hinwendung zur Urfassung; die Farbe wurde weggelassen, dafür ist der markante Zionsberg wieder da.
Eine Fassung aus der St. Johannis-Druckerei in Dinglingen wurde durch J. M. Bredée um 1890 in Rotterdam herausgebracht. Von dieser Lithographie ist nur das ausdifferenzierte, gegenüber 1867/68 veränderte Himmlische Jerusalem von Interesse, die übrigen Details entsprechen meist der vorhergehenden Fassung. Die Bauten wurden für das Jerusalem neu gezeichnet, man findet schmale Kirchtürme wie auch einen Monopteros. Eine Stadtmauer gibt es nicht, es sieht fast so aus, als würde die Stadt an einem See oder Meer liegen.
Diese sog. dritte Version der Stuttgarter Fassung von 1890 (LkAS, Inventarnummer 7.950) ist gegenüber der zweiten Fassung quasi unverändert und wurde nur in der Kolorierung leicht modifiziert. Bezüglich des Neuen Jerusalem wurden wieder einmal die Strahlen des Lammes geändert. Warum gerade die Strahlen zu immer neuen Varianten führten und man nicht mit einer Lösung zufrieden war, vermag ich nicht zu beantworten. Es hätte eigentlich ganz andere Punkte gegeben, wie Edelsteine, die Perlen oder die zwölf Tore – das alles spielt jedoch keine Rolle, man beschäftigte sich stattdessen lieber mit Glorienschein und Nimbus.
Eine erste wesentliche Neuinterpretation entstand 1887 in den USA. Man tauschte die bisherigen Bildelemente durch solche aus der Welt des Freimaurertums aus, schon der Titel deutete an, dass hier an Selbsterlösung gedacht war: „From Darkness to Light“. In der Symbolik sind Verweise auf den York-Ritus und den Schottischen Ritus enthalten. Von dem 122 x 92 Zentimeter großen Blatt interessiert hier lediglich der obere Abschluss. Dort erreichen Menschen nicht nur einen Berggipfel, sondern auch die erscheinende Stadt in Form eines gewaltigen Tempelbaus. Damit wird auch an den Tempel Salomon erinnert, der innerhalb des Freimaurertums eine konstituierende Bedeutung hat. Zurück geht diese Darstellungsform im Prinzip auf Juan Bautista Villalpando. In den USA wurden sie durch John Sherer (gest. 1875) weiterentwickelt, einem Tempelforscher, Freimaurer und Verleger aus Cincinnati (Ohio). Nicht zufällig war der Auftraggeber von „From Darkness to Light“der Ordens „Odd Fellows Lodge“, und in diesem Kreis wird auch die Bildkonzeption entstanden sein. Diese Loge hatte in Cincinnati ihren ersten Tempel errichtet, zu dessen Ausgestaltung dieser Druck gedacht war. Die ungewöhnliche Arbeit wurde dann 1887 und erneut 1888 von „The Pettibone Bros. Mfg. Co.“ in Cincinnati gedruckt. Diese Firma war durch den Bau von Eisenbahnen emporgekommen, stellte neben Lokomotiven und Traktoren auch unterschiedlichste andere Produkte her, wie auch Poster und Bücher. Eines der Exemplare wird heute in der Library of Congress aufbewahrt (Nr. 2018696022).
Auch Neuinterpretationen dieses Blattes im 20. Jahrhundert existieren, wobei das Bild immer wieder an die Zeitverhältnisse angepasst wurde. Das beispielsweise belegt die Lithographie (19 x 15 Zentimeter) „Auf welchem Weg wandelst du?“ aus den 1920er Jahren (Museum der Kulturen, Basel). So wurden auf der Lithographie neue, auch moderne Häuser eingefügt, die Partie mit dem Neuen Jerusalem jedoch kaum verändert.
Die „Lahr-Dinglinger-Fassung“ wurde in den Jahren der 1968er-Revolution auch einmal marxistisch umgedeutet. Die „schmale Pforte“ ist das Eingangstor zum real existierenden Sozialismus, bzw. zum Kommunismus, wie es das Schild verheißt. Weiter oben erscheint auch eine Art „Anti-Neues-Jerusalem“: die moderne Stadt ist ein Sündenbabel, statt dem Gotteslamm thront das goldene Kalb über allem. Die einzelnen Stationen sind mit ironischen Sprüchen versehen, so steht über der Stadt: „Dieses unendlich strahlende und schöne, dieses höchste Zukunftsideal“. Das Blatt findet man als Beilage („Kursbogen“ genannt) zur Oktoberausgabe 1971 des „Kursbuches“, welches damals von Hans Magnus Enzensberger herausgegeben wurde.
Willem Knippenberg: De brede en de smalle weg, in: Brabants Heem, 33, 2/3, 1981, S. 106-114.
Robert P. Zijp: De brede en smalle weg, in: Vroomheid per dozijn, Utrecht 1982, S. 35-42.
Manfred Köhnlein: Weltbild und Glaubensverständnis im württembergischen Pietismus des 19. Jahrhunderts, in: Gerhard Büttner, Jörg Thierfelder (Hrsg.): Religionspädagogische Grenzgänge, Stuttgart 1988, S. 127-147.
Karl Daiber: Charlotte Reihlen. Mitbegründerin der Evangelischen Diakonissenanstalt Stuttgart, Stuttgart 1997.
Carmen Czajkowski: Pietismus in Württemberg im 19. Jahrhundert, Darmstadt 2005.
Konrad Vanja: Von Babylon nach Jerusalem, in: Moritz Wullen, Günther Schauerte (Hrsg.): Babylon. Mythos und Wahrheit, Berlin 2008, S. 225-230.
Friedrich G. Lang: Geschichte und Konzeption von Charlotte Reihlens Zwei-Wege-Bild, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte, 110, 2010, S. 305-367.
Friedrich Gustav Lang: Charlotte Reihlen, 1805-1868. Lebensweg und Zwei-Wege-Bild, Stuttgart 2014.