Hallische Apokalypse der Altgläubigen (1768)

Unter der Signatur „Ya 8° 1“ findet man an der Universitätsbibliothek Halle eine illuminierte Handschrift, die in der Wissenschaft den Namen „Hallische Apokalypse“ bekommen hat. Sie entstand im Umkreis der Altgläubigen oder Altorthodoxen, eine Sammelbezeichnung für religiöse Strömungen und Gruppen innerhalb der russisch-orthodoxen Tradition, die sich 1666/67 von der Großkirche getrennt hatte. Gut ein Jahrhundert darauf, 1768, entstand dieses Kunstwerk, dessen Apokalypse mit dem Kommentar des Andreas von Caesarea in kirchenslawisch versehen wurde. Sie ist in ihrer bildlichen Darstellung und Farblichkeit stark den russischen Volksbilderbögen (Lubki) verwandt, mit einem ausgeprägtem Streben nach Bildfülle, nach realistischer Naturwiedergabe und Symmetrie, was auch die hier gezeigten Abbildungen zum Himmlischen Jerusalem kennzeichnet (ganzseitige aquarellierte goldgerahmte Federzeichnungen auf S. 145r, 149r, 152r, 157r und 159r). Sie zeigen die Stadt im Prinzip in einer Form, wie bereits in der russischen Gerichtsapokalypse (um 1620), dort fol. 110v.

Ungewöhnlich genug zeigt die erste Miniatur mit dem Himmlischen Jerusalem die Stadt inmitten eines Waldes. Die Stämme der Bäume korrespondieren dabei mit dem Rhythmus der Tore und darüberliegenden Fensterreihen. Im Inneren ist ein Rautenmuster zu erkennen, das vermutlich den Boden darstellen soll. Dieser Aufbau wiederholt sich im Prinzip auch bei den folgenden Repräsentationen Jerusalems in dieser Handschrift. Auf dem folgenden Blatt (S. 149r) misst Johannes mit einem Engel von außen die Stadt, und auf S. 152r und 159r erscheint Christus in der Mitte des Himmlischen Jerusalem, einmal in Gestalt eines Lammes, einmal als Mensch. Auf dem letzten Bild sind die grauen Figuren, die in Gruppen unten an beiden Seiten zu finden sind, nicht etwa Heilige, sondern verworfene Seelen und Sünder, die um Rettung flehen.
Nur einmal, auf S. 157R (vierte Abbildung), erscheint die Gottesstadt in veränderter Gestalt. Hier nimmt sie als sich nach oben verjüngende Pagode die rechte Bildseite ein, während auf der linken Seite Bäume dargestellt sind. In der Lebenswirklichkeit der verfolgten Altorthodoxen bot der Wald einen Schutz- und Rückzugsort der physischen wie geistigen Abgeschiedenheit, den der Gläubige mit dem Neuen Jerusalem in Beziehung setzen konnte.

 

Die Wiedergabe des Himmlischen Jerusalem aus der Hallischen Apokalypse floss auch in die Sammelhandschrift „RNB, SPb, Nr. 193“ mit ein, die in der St. Petersburger Kolobov-Sammlung aufbewahrt wird (links). Die Schrift wird auf das 19. Jahrhundert datiert. In ihr sollten vor allem komplizierte Dogmen eschatologischer Theologie in einfache Bilder gesetzt und den breiten Volksmassen vertraut gemacht werden. Fol. 10r zeigt das Himmlische Jerusalem, aus dessen Mitte ein Hügel erwächst, eine Mischung aus Zionsberg und Golgatha. Bekrönt ist es mit einem russisch-orthodoxen Kreuz.
Diese Farbzeichnung (also RNB, SPb, Nr. 193) geht zurück auf eine Vorlage von 1721 (rechts), nämlich die Miniatur Nr. 73 aus der Handschriftensammlung des Professors Fyodor Buslaev (1818-1898) (dort die Abbildung zu Johannesoffenbarung Kap. 21, Vers 9-27). Diese orthodoxe Apokalypsen-Handschrift muss heute als verschollen gelten.

Fyodor Buslaev: Russkij licevoj Apokalipsis, St. Petersburg 1884.
Karsten Grünberg: Die kirchenslawische Überlieferung der Johannes-Apokalypse, Frankfurt am Main 1996.
Andrej Tchernodarov: Kunst der verbannten Kirche, Apokalyptik und das Jüngste Gericht in der sakralen Kunst des russischen Altgläubigentums, Halle 2006.

 

tags: Altgläubige, Apokalypse, Universitätsbibliothek Halle, Althorthodox, Wald, Pagode, Zionsberg, Russische Nationalbibliothek St. Petersburg
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