Jean Obry, Robert de Cocquerel: „Chants royaux du Puy Notre-Dame d’Amiens“ (1518)

Im 16. Jahrhundert findet man in englischen oder französischen Handschriften kaum noch Miniaturen mit dem Himmlischen Jerusalem, und wenn, dann mit eher schmückendem, akzidentiellem Charakter, wie etwa bei den Darstellungen der Maria Immaculata, bei einigen Prachtbibeln, bei einem Lektionar (1510) und schließlich bei einer Ausgabe der Gesta Romanorum (1521). Eine solche Ausnahme ist auch das Werk „Chants royaux du Puy Notre-Dame d’Amiens“, welches sich heute unter der Signatur MS Français 145 in der Französischen Nationalbibliothek (Paris) befindet, in der das Himmlische Jerusalem mehrfach dargestellt ist. Alle diese Miniaturen sind sinnbildliche Verehrungen der Jungfrau Maria. Die französischen Maler dieser Miniaturen, Jean Obry und der Kanoniker Robert de Cocquerel unter Anleitung von Jean Pichore, haben diese Seiten in enger Abstimmung untereinander gestaltet.

Fol. 10v zeigt Maria mit dem Christuskind in einer Stadt, die von zwölf Türmen umgeben ist. Ein kleiner weiterer Turm wird rechts von der Heiligen Barbara gehalten. Im Zugangstor zu dieser Stadtanlage steht eine Frau mit einem Schwert und einer Waage: Sie symbolisiert das Gericht, bei dem die Taten der Menschen gewogen werden.

Fol. 14v (nachweislich von Jean Obry) und fol. 31v (nachweislich von Robert de Cocquerel) sind sich ähnlich: Eine graue Mauer mit mehreren breiten und runden Türmen auf tiefblauen Wolken zieht sich halbkreisförmig durch den oberen Bildrand. Diese Konzeption findet sich in Schriften „De Civitate Dei“, erstmals in einer Ausgabe aus Flandern in der zweiten Hälfte des 15. Jh., dann weiterentwickelt 1462 von Jacquemart Pilavaine.
Jetzt blickt aus der Stadt streng ein alter Mann mit einem weißen Bart: Gottvater. Auf beiden Abbildungen hält er in seine Linken eine Weltkugel und trägt einmal eine Krone, einmal eine Mitra. Bei fol. 14v ist im Hintergrund eine homogene Masse von Engeln in roter Farbe eingezeichnet, auf fol. 31v füllt der Mantel Gottes, der von zwei Engeln getragen wird, den Stadtraum aus. Beide Blätter erinnern an zeitgenössische Altarflügel, sogar das Halbrund des Rahmens ist übernommen. Und in der Tat sind diese Arbeiten Kopien von 47 Gemälden aus der Kathedrale Notre-Dame zu Amiens, die heute größtenteils verloren sind.

Fol. 31v zeigt nochmals Maria mit dem Christuskind, wieder umgeben von einer Stadtanlage, ähnlich wie auf fol. 10v. Die Architektur lehnt sich an den französischen Schlossbau an und ist vorne von einer Mauer mit kleinen Türmen umgeben, wodurch der hintere Teil sehr groß erscheint. Vor Maria steht hier eine kleine Umzäunung. Dieses ist eine Anspielung auf den Hortus Conclusus, der in dem Band auch noch auf einer anderen Miniatur thematisiert ist und die Reinheit und Natürlichkeit der Jungfrau zum Ausdruck bringen soll.

Georges Durand: Chants royaux et tableaux de la confrérie du Puy Notre-Dame d’Amiens, reproduits en 1517 pour Louise de Savoie, Duchesse d’Angoulême (Bibliothèque nationale, ms. français 145), Paris 1911.
Susie Nash: Between France and Flanders. Manuscript illumination in Amiens, London 1996.
Caroline Zöhl: Jean Pichore, Buchmaler, Graphiker und Verleger in Paris um 1500, Turnhout 2004.
Caroline Zöhl: Miniaturen und Altarretabel zwischen Allegorie und Emblem, in: Mara Hofmann, Caroline Zöhl (Hrsg.): Quand la peinture était dans les livres, Turnhout 2007, S. 405-425.

 

 

tags: Gottvater, Hortus Conclusus, Frankreich, Spätgotik
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