Auf dieser Miniatur wurde das Weltgericht in Szene gesetzt, wie es seit bereits vielen Jahrhunderten Tradition war: Links das Himmlische Jerusalem, rechts die Hölle, dazwischen Christus als Richter auf einem Regenbogen, assistiert von Heiligen oder, wie hier, von Engeln, die mit Posaunen das Jüngste Gericht verkünden. Neu war, den bislang meist goldenen Hintergrund durch ein tiefes Blau auszutauschen, welches mit zahlreichen goldenen Sternen für das Firmament steht.
Die Pforte bzw. die Stadt besitzt keine gotischen Stilmerkmale mehr, sie ist bereits von der neuen Frührenaissance-Architektur der Lombardei und ihrer Paläste inspiriert. Auf Bildern war es ja einfacher, Architektur in einem neuen Stil zu präsentieren, die baulichen Werke zogen dann zeitverzögert nach. Ansonsten ist hier noch auffällig, dass die ansonsten obligatorische Petrusfigur vor der Pforte fehlt. Dafür finden sich Personen mit einem Engel, nicht nackt, sondern in prächtigen blaufarbenen Kleidern, teilweise mit Goldapplikationen ausgestattet – in diesem Jerusalem geht es würdig zu.
Die Miniatur auf fol. 7r wurde um das Jahr 1405 zunächst für eine Ausgabe der Legenda Aurea entworfen, die sich heute unter der Signatur MS 9228 in der Bibliothèque royale de Belgique, der Königlichen Bibliothek von Belgien, in Brüssel befindet. Der Künstler oder auch der oder die Auftraggeber sind unbekannt. Die Legenda Aurea (lat. Goldene Legende) ist eine von dem Dominikaner Jacobus de Voragine (um 1230-1298) verfasste Sammlung von ursprünglich 182 Traktaten zu Kirchenfesten, Heiligenlegenden, Lebensgeschichten Heiliger. Es handelt sich bei der Legenda Aurea um das bekannteste und am weitesten verbreitete religiöse Volksbuch des Mittelalters, in dem das Himmlische Jerusalem aber eher ausnahmsweise einmal thematisiert worden ist.
Joseph van den Gheyn: Catalogue des manuscrits de la Bibliothèque Royale de Belgique, 5: Histoire, Bruxelles 1905.
La légende dorée de Jacques de Voragine illustrée par les peintres de la Renaissance italienne (400 peintures et fresques des xive et xve siècles italiens), Paris 2000.
Claus Bernet: Torszenen, Himmelspforten, Porta Coeli, Norderstedt 2014 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 11).