Suche
Close this search box.

Morgan MS 772: Pélerinage de la vie humaine“ des Guillaume de Digulleville (1348)

Die mittelalterliche Dichtung „Pélerinage de la vie humaine“ stammt von Guillaume de Digulleville (auch Déguileville, 1295-1358). Digulleville war Prior der Zisterzienserabtei von Chaalis und Verfasser einflussreicher religiös-allegorischer Dichtungen in mittelfranzösischer Sprache. In seiner Pélerinage beschreibt er, wie ihn nach der Lektüre des Rosenromans eine Vision ergriff, die ihn auf eine spirituelle Reise nach Jerusalem führte. In der Vision wird ihm das Neue Jerusalem in seiner ganzen Schönheit vorgeführt. Obwohl sie von Petrus streng bewacht ist, versuchen findige Mönche auf nicht ganz faire Weise in die Stadt zu gelangen, indem sie Leitern und Stricke benutzen oder sich einfach in Vögel verwandeln. Das alles misslingt, denn nur durch einen tugendreichen Lebenswandel öffnet sich die Pforte der Stadt.
Die Schrift Pélerinage ist auch ein Ausdruck der Sehnsucht nach einem sicheren Ort, in dem man vor Gefahren, Krankheit, Tod und Hunger geschützt ist. Aus dem Text geht hervor, dass sich die Erscheinung des Himmlischen Jerusalem auf ein autobiographisches Erlebnis des Verfassers, also Guillaume de Digulleville, bezieht: Er habe aus einer Vision, die in einem Spiegel erschien (daher wird der Text auch „Spiegelvision“ genannt), lernen sollen, dass der Mensch auf Erden pilgern müsse, um einst das Himmlische Jerusalem zu erreichen. Es geht also um eine metaphorische, geistig-spirituelle Reise nach Jerusalem.
Digullevilles Werk wurde posthum dann vor allem im 15. Jahrhundert beliebt und vielfach neu aufgelegt. Eine der frühesten Miniaturen dieser Gattung sind sechs Grisaillezeichnungen auf Pergament aus der Ausgabe der New Yorker Morgan Library (MS 772). Sie entstanden in Frankreich und sind auf 1348 datiert, lediglich die Ausgabe MS Cod. Gall. 30 kommt auf ein ähnliches Alter. Fol. 1v und 2r zeigen aus unterschiedlichen Perspektiven Details des Himmlischen Jerusalem und Szenen, in denen Mönche versuchen, sich Zugang in die Stadt zu verschaffen, durch selbstgebastelte Flügel (fol. 1v), durch eine Leiter und durch eine Kordel (beide fol. 2r). Fol. 1r zeigt das Neue Jerusalem in einem runden Spiegel, der ähnlich wie auch in der Münchner Ausgabe MS Cod. gall. 30 noch frei im Raum zu schweben scheint. Die im Spiegel erscheinende Stadt sieht im Prinzip ähnlich aus wie sie die folgenden Miniaturen zeigen. Es sind Mauern und Türme zeitgenössischer spätmittelalterlicher Stadtanlagen. Auf fol. 1v hält der Engel ein Wappen, welches leider frei geblieben ist – es hätte uns vielleicht wertvolle Hinweise zu Herkunft und Besitzer geben können. 

Michael Camille: The illustrated manuscripts of Guillaume de Deguileville’s Pèlerinages, 1, Cambridge (Mass.) 1985.
Anne-Marie Legaré: La réception du Pèlerinage de vie humaine de Guillaume de Digulleville dans le milieu angevin d’après les sources et les manuscrits conservés, in: Sophie Cassagnes-Brouquet (Hrsg.): Religion et mentalités au Moyen Âge, Rennes 2003, S. 543-552.
Philippe Maupeu: Pèlerins de vie humaine, Toulouse 2005.
Frédéric Duval, Fabienne Pomel (Hrsg.): Guillaume de Digulleville: Les Pèlerinages allégoriques, Rennes 2008.

 

tags: Spiegelvision, Guillaume de Digulleville; Morgan Library, New York, Mönche, Spiegel, Gotik, Mittelalter
Share:
error: