Julius Schnorr von Carolsfeld (1794-1872) war zu Lebzeiten ein gefeierter Meisterkünstler; Reproduktionen seiner Werke schmückten viele bürgerliche Wohnstuben. Große Popularität hatte seine Prachtbibel „Das Buch der Bücher in Bildern“, welche erstmals 1860 aufgelegt wurde. Die Bilder zu dem Band wurden von Stechern der Firma Breitkopf und Härtel in Leipzig angefertigt, das Werk dann im Verlag von Georg Wigand, ebenfalls in Leipzig, herausgegeben. Die Kunstbibel oder Bilderbibel wurde von Katholiken wie Protestanten gleichermaßen gerne erworben und gelesen. Selbst im Ausland wurde diese Bibelausgabe zu einem Erfolg und trug zur Bibelfrömmigkeit in neupietistischen Kreisen bei. Neben Gustave Doré gilt Schnorr von Carolsfeld daher als der wichtigste Bibelillustrator des 19. Jahrhunderts.
Die Illustration zieht die Blicke auf die sich gegenüber stehenden Figuren Christus und Maria, so dass leicht verloren geht, dass auf diesem Bild auch das Himmlische Jerusalem prominent in Szene gesetzt wurde. Die Mauern und Tore der Stadt ziehen sich am unteren Rand des Bildes entlang, die eigentliche Stadt mit vielen Bauten zieht sich bis weit in die Bildtiefe hinein, wird aber größtenteils von einem Engel mit einem Schriftband überdeckt.
Im Zuge der Popularisierung entstanden von der Illustration auch kolorierte Fassungen als Einzelblatt, wie dieses in blauer Tönung. Der Titel: „Johannes erblickt das neue Jerusalem“. Auch diese Fassung wurden von Georg Wigand von Leipzig aus in die Welt verschickt.
Die Zeichnung des Schnorr von Carolsfeld diente einmal auch als Vorlage für ein Deckenmalerei in einer russisch-orthodoxen Kirche im Dorf Knyazhevo, das am Rande der Stadt Bezhetsk liegt. Die Verkündigungskirche, 1776 erbaut, wurde im Zuge der Stalinisierung aufgegeben, die Fresken sind in einem schlechten Zustand. Sie waren um 1870 von mehreren Malern aus Twer angefertigt worden, die hier ein Dutzend Illustrationen aus der Prachtbibel kopierten. Das Bild am Westbogen des mittleren Teils der Kirche ist zusätzlich mit einem Rahmen und eingefassten Grisaille-Ornamenten versehen. Die Personen wurden kaum verändert, jedoch Position und Gestalt der Stadt. Die Bauten unter dem Engel mit dem Schriftband sind komplett weggefallen, obwohl genügend Platz vorhanden gewesen wäre. Lediglich über dem Engel findet man den Turm mit Ansätzen der Mauer wieder. Neu ist hingegen, dass sich Türme und Mauern nun außerhalb der Figuren, die hier von Wolken umzogen wurden, an der rechten und vor allem an der linken Seiten befinden. Es ist aber nicht länger ein Blick von oben in das Stadtinnere, sondern ein Blick von unten auf die Mauerzüge. Die geometrische, lineare Darstellung wurde durch eine weiche, malerische Ausführung ersetzt.
Um 1880 erschien in Spanien diese farbige Chromolithografie. Sie gehört zu einer Reihe von Sammelkarten und hat die Nummer 199, womit die Serie „Historia Sagrada“ vermutlich ihren Abschluss fand. Auch hier gilt: Die stehenden Personen blieben relativ unverändert, der Engel mit dem Schriftband jedoch wurde ersatzlos gestrichen, weshalb die Struktur der Stadt wie auch die Strahlengloriole besser sichtbar wird.
Christian Friedrich Wilhelm Pietzsch: Die Bedeutung der ‚Bibel in Bildern’ von Dr. Schnorr v. Carolsfeld beim Unterrichte in der biblischen Geschichte in Schule und Haus, Dresden 1861.
Otto Eberhardt: Ältere Bibelillustrationen als Quellen für die Bilderbibel des Julius Schnorr von Carolsfeld, in: Das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft, 51, 1998, S. 2-14.
Christine Riegelmann, Jane Redlin: Die ‚Bibel in Bildern’ von Julius Schnorr von Carolsfeld und ihre populäre Rezeption in Europa, in: Faszination Bild, 1, Berlin 1999, S. 125-144.
Sigrid Nagy: Julius Schnorr von Carolsfeld ‚Bibel in Bildern’ und ihre Popularisierung, Würzburg 1999.