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Jerusalems-Konzeptionen nach Nikolaus von Lyra (1481, 1485, 1527, 1539 und 1635)

Nikolaus von Lyra (um 1270/75 – 1349) wurde in Lyra (Lyre) bei Évreux in der Normandie geboren und trat 1291 in den Franziskanerorden ein. Dort studierte er Theologie, wurde Magister und vervollkommnete sich in Paris (1308-19 und wieder seit 1326). Sein fortlaufender Kommentar zur Bibel, „Postillae perpetuae“ (geschrieben zwischen 1322 und 1330, erschienen in Rom 1471 in fünf Bänden, erstmals in Deutschland dann 1485 bei Anton Koberger in Nürnberg), hat es, mehr als dies sonst im Mittelalter der Fall war, auf den Wortsinn abgesehen und geht auch speziell auf jüdisch-exegetische Traditionen (etwa Raschi, 1040-1105) ein.
Wie so ein Wortsinn-Jerusalem als Beispiel für den vierfachen Schriftsinn aussehen konnte, zeigt fol. 183v der Ausgabe von 1481 (Band 2). Die Stadt ist quadratisch angelegt, man erkennt zwölf Tore, die mit den Namen jüdischer Stämme beschrieben sind. Bemerkenswert ist, dass jedes der Tore anders gestaltet ist, man findet Burgtore mit Zinnen ebenso wie Zeltdächer, die mit lateinischen Kreuzen oder Fahnen bestückt sind. Die Vielgestaltigkeit setzt sich im Stadtinneren fort, jedes der Häuser sieht etwas anders aus, man bekommt einen detaillierten Einblick, wie eine Stadt im 15. Jahrhundert ausgesehen haben mag. Gleichzeitig wurde diese Jerusalems-Konzeption bald kopiert und gelangte im 16. Jahrhundert sogar in Werke, welches mit Lyra gar nichts mehr zu tun hatten.

 

Eine erste Variante der Zeichnung bringt vier Jahre später eine Ausgabe von Ulrich Zell (Köln 1485). Der überarbeitete Holzschnitt zeigt ganz ähnliche Tortürme wie 1481, aber in einer anderen Anordnung. Auch die Bauten im Stadtinneren wurden leicht verändert. Im Stadtzentrum finden wir etwas, was auch die Ausgabe 1481 schon brachte: Eine Kirche mit einer Ummauerung, also eine Festung in der Festung nach Art der spätmittelalterlichen Beginenhöfe.

Maria Netter: Die Postille des Nikolaus von Lyra in ihrer Wirkung auf die Bibelillustration des 15. und 16. Jahrhunderts, unter besonderer Berücksichtigung der ‚Icones’ Hans Holbeins d. J., Basel 1954.
Anders Piltz: The world of medieval learning, Oxford 1981.
Wolfgang Bunte: Rabbinische Traditionen bei Nikolaus von Lyra. Ein Beitrag zur Schriftauslegung des Spätmittelalters, Frankfurt a. M. 1994.
Anna Katharina Hahn: Die ebreyschen sprechen dorobir. Die ‚postilla’ des Nikolaus von Lyra in der Historienbibel Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, mgf 1277, in: Vestigia bibliae. Jahrbuch des Deutschen Bibel-Archivs Hamburg, 24, 2002, S. 247-264.

 

1527 folgte die nächste Ausgabe, eine Exegese nach Nikolaus von Lyra von Jean Crespin (aktiv zwischen 1525-1543). Diese hat den Titel „Textus Bibliae“ und zeigt die Illustration der Stadt auf fol. CLXXXI. Nun auf einmal ist die Vertikale der Horizontalen gewichen, was sich auf die Bildkonzeption auswirkte: Die hohen Türme mussten gestutzt werden, die Beschriftungen wurden in die Zwickel gedrängt. Den Bauten in der Stadt wurde kaum mehr Aufmerksam geschenkt, die meisten wurden einfach weggelassen. Dafür hat der Holzschnitt nun einen prächtigen Renaissancerahmen.

 

1539 (Nachdruck 1543) wurde dieser Holzschnitt von Hans Holbein (nach 1497-1543) veröffentlicht. Da manche diese Arbeit mit der Lyra-Fassung verwechseln, wird fälschlich angenommen, Holbein habe diese nicht als Hofmaler von Heinrich VIII. in London, sondern schon um 1525 in Basel angefertigt. Der Holzschnitt erscheint auf Blatt 44 (Liijj) in einer Sammlung von Emblemen zum Alten Testament; der hiesige Schnitt zu Ezechiel Kapitel 47. Bis auf den Tempel (Felsendom) in der Mitte ist diese Zeichnung auch eine Darstellung des Neuen Jerusalem. Die Stadt ist quadratisch und von einer Stadtmauer umschlossen, sie hat zwölf Tore und zahlreiche Häuser. Die Illustration gehört zu weiteren Arbeiten zum Neuen Jerusalem, was belegt, dass sich Holbein bis an sein Lebensende immer wieder mit apokalyptischen Themen auseinandersetzte.

Images from the Old Testament – Historiarum veteris Testamenti icones, New York 1976.
Oskar Bätschmann: Hans Holbein d. J., München 2010. 

 

Nach über einhundert Jahren wurde die Jerusalem-Fassung ein letztes Mal aufgegriffen. Die ist der Fall in „Het Nieuwe Ierusalem“, einen der wenigen bildlichen Beiträge zum Thema von reformierter Seite des Pietismus. Sein Verfasser ist Willem Teellinck (1579-1629), einer der Führer der „Nadere Reformatie“. Nicht weniger als 127 Bücher gehen auf sein Konto, darunter auch „Het Nieuwe Ierusalem“, das 1635 in Middelburgh bei Van der Hellen erschien.
In „Het Nieuwe Ierusalem“ führen Jesus und Maria eine angeregte Unterhaltung, zunächst über die Vor- und Nachteile eines gottseligen Lebens und über die Pflichten eines Christen, in Anlehnung an Thomas von Kempen und unter Einschluss des Heidelberger Katechismus. Das Frontispiz ist dreigeteilt: Unten sitzen sich Christus und Maria gegenüber, oben erscheint das Himmlische Jerusalem, und dazwischen ist der Werktitel gesetzt. Ins Auge fällt sofort die zinnenbekrönte Ummauerung der Stadt mit ihren zwölf Tortürmen. Schießscharten, Fenster und selbst vereinzelt Mauersteine sind zu erahnen. Vor der Mauer sind, wie von den Vorläufern bekannt, die Himmelsrichtungen und jeweils drei der zwölf Stämme Israels aufgeschrieben. Im Inneren findet sich neben verstreuten Wohnbauten, die zum Teil an die Außenmauer angebaut sind, wieder das zentrale Gebäude des Felsendoms. Diesmal wurde die Moschee jedoch christianisiert: Auf diesem Tempel ruht jetzt das Agnus Dei mit der Siegesfahne. Neu sind auch die Schraffuren, die das Licht andeuten, welches von der Stadt ausstrahl. Solche Strahlen mussten in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts sein, die Ausgabe Theatrum Biblicum sollte es perfektionieren.

Herman Westerink: Met het oog van de ziel. Een godsdienstpsychologische en mentaliteitshistorische studie naar mensvisie, zelfonderzoek en geloofsbeleving in het werk van Willem Teellinck (1579-1629), (Zoetermeer) 2002.
Willem Jan op’t Hof: Willem Teellinck in het licht zijner geschriften (49): Het Nieuvve Jerusalem, in: Documentatieblad Nadere Reformatie, 28, 2, 2004, S. 135-145.
Willem Jan op’t Hof: Willem Teellinck (1579-1629). Leven, geschriften en invloed, Kampen 2008.

 

tags: Holzschnitt, Franziskaner, Rahmen, Hans Holbein, BnF Paris, Ezechiel, Nadere Reformatie, Pietismus, Niederlande, Reformierte, Frontispiz
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