Zu Beginn des 16. Jahrhunderts war die Verehrung Mariens in katholischen Regionen auf einem neuen Höhepunkt angelangt. Ganz besonders war jetzt die Darstellung der Jungfrau mit ihren zahlreichen Symbolen nach der Lauretanischen Litanei anzutreffen, wie das goldene Haus, die weiße Lilie, der Turm Davids oder der Hortus Conclusus. Diese Bildkonzeption wurde eigentlich das visuelle Banner der Gegenreformation. Es gibt viele Kupferstiche und Ölgemälde dieses Genres, aber nur sehr wenige Schnitzereien aus Elfenbein. Sie waren besonders wertvoll, da nur wenige Meister diese kleinen Schmuckarbeiten herstellen konnten. Die vorliegende Tafel ist nur 12 x 8 Zentimeter groß und 9 Millimeter tief. Sie ist in den südlichen Niederlanden angefertigt worden. Die Tafel gelangte im 18. Jahrhundert in den Besitz von Barthelemy Prinet und wurde dann im 21. Jahrhundert, im Jahr 2008, vom Amsterdamer Reichsmuseum aufgekauft (dort Objektnummer BK-2008-69). Ihre genaue kunsthistorische Einordnung steht noch aus.
Um eine zentrale Marienfigur sind mehrere Symbole angeordnet, von denen zwei das Himmlische Jerusalem repräsentieren: Links oben findet sich die Himmelspforte, rechts unten die Gottesstadt. Die Zuordnung darf als eindeutig gelten, da beide Objekte lateinisch beschriftet sind: Porta C(o)eli und Civitas Dei wurde in Schriftbänder unter der Darstellung eingraviert. Vorbild dieser Fassung war eine Illustration, die 1503 bei Thielman Kerver in Paris erschien. Freilich sind bei einer Arbeit aus Elfenbein die Details zurückhaltender, dennoch sind Fenster und Mauerwerk gut zu erkennen. Einst waren die Symbole nicht monochrom weißgelblich, sondern sie leuchtenden in schillernden Farben, von denen sich Reste erhalten haben.
Claus Bernet: Maria Immaculata. Das katholische Jerusalem, Norderstedt 2014 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 14).