Das Beispiel aus Russland stammt aus dem ländlichen Raum und zählt zur Volkskunst. Der Künstler wie auch der Entstehungshintergrund sowie die früheren Aufbewahrungsorte sind nicht bekannt; heute befindet sich die Pretiose in einer Privatsammlung, unerreichbar für die weitere Erforschung. Anders als bei goldfarbenen, feingemalten und daher auch teuren Ikonen herrscht hier ein kräftiger Pinselstrich vor, Teile im Hintergrund blieben unbemalt, wie man es eher von zeitgenössischen Buchillustrationen her kennt. An Farben standen anscheinend lediglich Rot und Gelb zur Verfügung, Grün und Blau fehlen gänzlich. Auch auf eine Beschriftung, die ansonsten auf hochwertigen Ikonen im Bild oder zumindest am Rand fast immer zu finden ist, wurde hier fast gänzlich verzichtet. Dies alles deutet auf die Gemeinschaft der Altgläubigen, die ohnehin nicht die gleiche Finanzkraft wie die russisch-orthodoxe Kirche hatte, um sich teure Künstler oder großformatige Ikonen zu leisten.
Unverkennbar ist das Thema das Himmlische Jerusalem: Im Zentrum steht der lehrende Christus, umgeben von vier Heiligen, wahrscheinlich von den vier Evangelisten Markus, Johannes, Matthäus und Lukas. Christus steht auf einer goldgelben Rundung – diese Rundung stellt entweder die neue Erde dar, den Regenbogen oder den Zionsberg, der traditionell in der Mitte des Himmlischen Jerusalem zu finden ist. Von dem Haupt Christi geht ein rot-weißer Strahlenkranz aus, bis an den Rand der Stadt. Dort befinden sich an jeder der vier Himmelsseiten jeweils drei Tore oder Türme, ähnlich wie auf einer russischen Apokalypsehandschrift (fol. 253v, um 1810). In den Toren steht jeweils ein Heiliger, die zwölf Jünger oder Apostel. Teilweise sieht man im oberen und unteren Bereich zwischen den kleinen Türmchen ein Stück der Stadtmauer, die mit einfachen Schmuckbändern und einem Blumenornament verziert ist. 

Claus Bernet: Pretiosen des Ostens: Ikonen, Norderstedt 2015 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 36).