Spiegelvision des des Guillaume de Digulleville: MS 1.2003 und MS 11.2005 (um 1440)
Die Blätter MS 1.2003 und MS 11.2005 stammen aus dem Fitzwilliam-Museum in Cambridge. Diese und andere Blätter einer spätmittelalterlichen Handschrift gelangten über unterschiedliche Wege in das Fitzwilliam-Museum, und daher hat man ihnen auch unterschiedliche Signaturen gegeben, bis man diese „Pélerinage de la vie humaine“ des Guillaume de Digulleville annähernd rekonstruieren konnte. Der Rahmen der Miniatur und die Binnenzeichnungen legen den gleichen Künstler oder zumindest die gleiche Schule nahe, vermutlich aus Frankreich. Dort sollen die Miniaturen um das Jahr 1440 entstanden sein.
Auf der ersten Miniatur (fol. 4) wird dem Pilger die Pracht des Himmlischen Jerusalem vorgeführt, um ihn zu einem tugendreichen Leben anzuspornen. Der fast unbekleidete Pilger ist von drei übergroßen Engelsgestalten begleitet. Zwei weitere Engel befinden sich auf dem Himmlischen Jerusalem im linken Bildhintergrund, welches, wie üblich im 15. Jahrhundert, als zeitgenössische Burganlage gezeigt ist. Bemerkenswert sind zwei Kleinigkeiten: Hinter einem Engel findet man auf einmal das Georgskreuz, welches sich im Spätmittelalter besonderer Beliebtheit erfreute und daher auch „einfach so“ dazugegeben wurde. Gleiches gilt für das Teufelsmonster, welches sich unter dem Gewand des Engels versteckt hat: Mit dem Romaninhalt, zu dem diese Miniatur gehört, hat dieses Wesen nichts zu tun.
Die folgende Miniatur (MS 11.2005) zeigt eine Gruppe von sieben musizierenden Engeln, die für Unterhaltung in himmlischen Gefilden zu sorgen hat. Die Musikanten, deren historische Musikinstrumente genau bestimmt werden können, befinden sich teils in, teils außerhalb der Gottesstadt. Mit den wechselweise blauen sowie roten Flügeln der Engel und den Dächern Jerusalems entsteht ein schwungvoller Gesamteindruck, der die eigentliche Stadt in den Hintergrund treten lässt. Gleichzeitig wurden weiterhin auch im Spätmittelalter die zwei zentralen Farben verwendet, die sich immer mehr zur traditionellen Kennzeichnung der Gottesstadt herausbildeten. Vergleicht man dieses Blatt mit vorangegangenen Darstellungen des Neuen Jerusalem im Pilgerroman wird schnell klar: auch diese Szene mit dem Engelsorchester ist eine Zutat des findigen Illustrators. Der Roman von Guillaume de Digulleville war zu diesem Zeitpunkt eigentlich ein Auslaufmodell, offensichtlich wollten die Miniaturisten mit Ideen und Witzigkeiten dem entgegenwirken.
Michael Camille: The illustrated manuscripts of Guillaume de Deguileville’s Pèlerinages, 1330-1426, Cambridge 1985.
Claus Bernet: Die Spiegelvision des Guillaume de Digulleville, Norderstedt 2015 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 35).
Beitragsbild: Fitzwilliam Museum