Die lateinische Handschrift MS B.10.6 aus dem Trinity College in Cambridge ist eine der ältesten englischen Apokalypsehandschriften überhaupt. Bis zu sechs verschiedene Illustratoren haben hier mitgewirkt, so haben es Fachleute herausgefunden. Die Miniaturen haben nicht den künstlerischen Anspruch wie etwa die der Beatus-Apokalypsen, und obwohl sie fast ein ganzes Blatt ausfüllen, sind sie äußerst einfach gehalten. Sie zählen zu den gröbsten mittelalterlichen Illustrationen zum Himmlischen Jerusalem, die sich erhalten haben. Das hat weniger mit den künstlerischen Fähigkeiten der Zeit zu tun, sondern der Auftraggeber war einfach nicht in der Lage oder nicht willens, teure Miniaturen anfertigen zu lassen. Andererseits sollte die Zeit der englischen Meisterwerke auf dem Gebiet der Apokalypsenkunst erst noch kommen – wir haben, was umso interessanter ist, ein Frühwerk vor uns, das späteren Arbeiten möglicherweise Impulse gegeben hat.
Auf fol. 45r war wohl ursprünglich ein Engel auf der rechten Seite vorgesehen, der dann aus unbekannten Gründen weggelassen wurde. Mit der biblischen Beschreibung, dass das Himmlische Jerusalem keinen Tempel haben soll, hat sich der Auftraggeber oder der Miniaturist nicht abfinden wollen und trotzig auf den offenen Eingang „hic est templum“ geschrieben. Möglicherweise – darauf deutet die Handschrift – ist diese Beischrift auch erst im 17. Jahrhundert hinzugefügt worden.
Fol. 46r zeigt dann die Gottesstadt, wie sie noch häufig dargestellt werden sollte: als kleines Schatzkästchen oder Tabernakel, mit einem steilen Satteldach und zwölf Toren, die in zwei Reihen übereinander gesetzt wurden. Die ansonsten unbelebte Szene wird durch zwei Personen im Vordergrund ergänzt: Johannes der Seher links und der Engel (hier ohne Maßstab) rechts.
Fol. 47r zeigt abschließend, wie das Wasser des Lebens aus der Mandorla von oben in das Himmlische Jerusalem strömt und die Stadt belebt. Die Pforte links ist nun geöffnet, heilige Bewohner nähern sich ihr. Die Stadt breitet sich zwischen zwei ähnlichen Türmen aus. Den Türmen wurden zwei Bäume korrespondierend beigegeben: der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis. Johannes beobachtet auch diese Szene auf einer Wolke und ist eifrig bemüht, das Visionierte niederzuschreiben.
Richard Emmerson, Suzanne Lewis: Census and bibliography of medieval manuscripts containing Apocalyse illustrations ca 800-1500, in: Traditio, 41, 1985, S. 367-409.
Nigel Morgan: Early gothic manuscripts 2: 1250-1285, London 1988.