
Die Zeugen Jehovas haben eine intensive Himmlische-Jerusalems-Tradition. Ihre Gottesstadt ist die Fortsetzung des irdischen Lebens auf einer höheren Stufe. Einige Abbildungen der Stadt in diesem Sinne findet man in Klassikern der Zeugenliteratur, wie „Die Offenbarung – Ihr großartiger Höhepunkt ist nahe!“ (Selters/Taunus 1988). Künstler sind in solchen Werken nicht genannt – es sind die üblichen professionellen Layouter, die auch ansonsten damals den Wachturm und andere Literatur der Zeugen Jehovas illustrierten.
In den Schriften findet man eine Schilderung der Gottesstadt, die dem Schwarz-Weiß-Denken der Johannesoffenbarung in nichts nachsteht: „Wer sind diese ‚Nationen’, die durch das Licht des Neuen Jerusalem wandeln? Es sind Menschen, die den Nationen dieser bösen Welt angehört haben, aber auf das von dieser herrlichen himmlischen Stadt ausgestrahlte Licht reagieren. (…) Obschon seine Tore immer offen stehen, wird niemand hineingelassen, der ‚Abscheuliches und Lüge verübt’. In dieser Stadt gibt es keine Abtrünnigen und keine Angehörigen Babylons der Großen. Die Anstrengungen eines jeden, der versucht, diese Stadt zu entweihen, indem er ihre künftigen Glieder, während sie noch auf der Erde sind, verderben möchte, werden vereitelt“. Dargestellt wird diese Stadtdarstellung wie bei anderen Konfessionen auch mit den üblichen, in der Johannesoffenbarung beschriebenen Elementen. Im ersten Beispiel ist es ein großer transparenter Kubus, in dem man eine Straße an einem Fluss erkennen kann, an dessen Ufern sich moderne Hochhäuser entlang ziehen. Der Kubus steht auf einer grünlichen Stadtmauer, aus der er emporwächst oder der er aufgesetzt ist. Diese Mauer ist mit Perlen besetzt, die wie im Zitat erwähnt offen stehen und vor denen ein Engel steht. Noch weiter unten sieht man einen hellblauen, einen dunkelblauen und einen grünen Edelstein, auf dem das Ganze fundiert ist. Ungewöhnlich ist, dass über dem ersten Kubus ein zweiter, kleinerer Kubus zu schweben scheint – es ist Gottvater auf dem Thron, der hier nicht in, sondern über der Stadt residiert. Die übergroße Figur links ist nicht etwa Christus, sondern sie soll illustrieren, wie ein idealer Bewohner der Stadt aussieht bzw. gekleidet ist (Die Offenbarung, 1988, S. 302).
Diese Illustration war sehr populär, sogar andere Konfessionen nutzten sie. Auch gibt es vereinfachte Varianten, bei denen Gottvater und der Idealbewohner weggelassen wurden (Die Offenbarung, 1988, S. 308 und Backcover).
Eine weitere Illustration zeigt die Perlentore und die Stadtmauer etwas genauer. Da ihr der kristalline Kubus aufgesetzt ist, spiegelt sich der gesamte Mauerzug, was man an den doppelt gesetzten Zinnen gut zu erkennen vermag. Neben den Toren stehen Engel, die hier alle einen Bart tragen, was extrem selten zu finden ist. Ein weiterer bärtiger Engel fliegt über einer Ecke der Stadtanlage. Er ist dabei, die Proportionen der Stadt zu vermessen, was die Exaktheit und Realität dieser Stadt vermitteln soll (Die Offenbarung, 1988, S. 307).
Noch deutlicher wird die Konstruktion der Perlentore bei dieser Zeichnung. Die Perlen liegen nicht auf, sondern schweben frei im Raum. Sogar eines der metallenen Scharniere, mit denen sie in der Mauer verankert sind, wird hier gezeigt. Oben links steht geschrieben „Happy are those who … gain entrance into the city by its gates“, und genau das wird hier gezeigt: Ein freundlich blickender Engel begrüßt einen älteren Herrn in weißem Gewand, der sich Hoffnung machen darf, bald in die Stadt einzutreten (Die Offenbarung, 1988, S. 315 und Backcover).
Diese Illustration könnte ebenso von den Adventisten sein und belegt die Popularität des Themas in den USA. Es zeigt die Völkerwanderung zum Himmlischen Jerusalem als golden strahlende Stadt auf einer Anhöhe. Im Gegensatz zu vielen anderen Illustrationen sind die Menschen im Vordergrund nicht in antikisierte Gewänder gekleidet, sonder tragen ihre Alltagskleidung. Manche haben an der Stirn ein Fitnessband – eine Modeerscheinung der Aerobic-Bewegung der 1980er Jahre. Die Menschen bewegen sich auf einer idyllischen Landschaft zwischen Bäumen und einem Fluss, ganz links ist noch ein Löwe zu sehen. Es ist nicht allein eine Paradiesszene, sondern ein Beitrag der Zeugen Jehovas zum Thema des ewigen Tierfriedens, der in den USA häufig mit dem Neuen Jerusalem verknüpft wurde (Die Offenbarung, 1988, S. 291).
Die erfolgreiche Stadtdarstellung, wie sie oben beschrieben wurde, gelangte auch über kleinere Illustrationen in Bücher und Zeitschriften der Zeugen Jehovas. Sie wurde auf das Wesentliche reduziert, so hat man die Engel, die Perlentore, selbst Gottvater weggelassen. Durch einmal konzentrische Kreise (links), dann durch wechselweise lange und kurze Strahlen (rechts) wird der Blick auf den Kubus gezogen, von dem die Kreise/Strahlen ausgehen.
Der Hardcoverband „Die Offenbarung“ besitzt noch eine Besonderheit, die auch nach jahrelangem Gebrauch nicht sogleich auffällt. Auf den ersten Blick scheint das Cover lediglich aus der goldfarbenen Schrift und dem roten Einband zu bestehen – ohne besondere künstlerische Gestaltung. Nur unter besonderem Lichteinfall erscheinen auf ihm Gravuren, die in den Band eingestanzt wurden. Hält man den Band in einem bestimmten Winkel ins Licht, erscheint das Neue Jerusalem in seiner Kontur:
Wachturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft (Hrsg.): Die Offenbarung – Ihr großartiger Höhepunkt ist nahe! Selters im Taunus 1988.
Claus Bernet: Freikirchen, ‚Sekten‘, Denominationen, Norderstedt 2013 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 9).