Car Kis: Zweiwegebild „Schmaler und breiter Weg“ (um 1830)

Das bekannte und lange Zeit populäre Zweiwegebild, „Der breite und der schmale Weg“ (ab 1867) von Charlotte Reihlen hatte eine ganze Reihe von Ideengebern und Vorläufern, Car Kis war einer von ihnen. Dieser führte einen Verlag und eine Buchhandlung in Cannstadt, am einstigen Fischertor. Angefertigt wurde der von Kis vertriebene Druck vermutlich von ihm selbst, denn er wird handschriftlich unter der Grafik als „Verfaßer“ benannt; sein Name ist dort tatsächlich „Car“ und nicht „Carl“. Geht man nicht von einem Rechtschreibfehler des Restaurators aus, der diese Angaben nach 1830 hinzugefügt hat, bleibt es sonderbar: Die Grafik hat hohe Qualität, hier arbeitete kein Anfänger – dennoch war es nicht möglich, weitere Werke eines „Car Kis“ zu entdecken. Möglicherweise wurde ein Pseudonym gewählt. Neben seinem Namen findet man übrigens auch den blumigen Titel, der seinem Werk gegeben wurde: „Schmerzlicher Irthum des Ippigen Lebens jetziger Welt Menschen“.
Der Grundtenor dieser Arbeit ist eigentlich das Bizarre, das Spektakuläre, das Dramatische. Einige Beispiele: die Torflügel zum schmalen Weg sind die mosaischen Gesetzestafeln. In der unteren rechten Ecke wird durch das Bild eines am Boden liegenden Suffkopfs vor dem Alkohol gewarnt. Der breite Weg führt an einer bizarren Felsenlandschaft vorbei, deren Ausgestaltung viel Mühe kostete. Der rauchende Höllendrache verschlingt ihm zufliegende Menschen.

Wer nun ein alles übertreffende Himmlisches Jerusalem mit noch nie dagewesenen Spezialeffekten erwartet oder erhofft hat, wird enttäuscht. Ganz im Gegenteil ist die heilige Stadt allein und ausschließlich nur durch eine Himmelspforte markiert, die zudem weder farblich noch baulich hervorsticht. In ihrer grauen Bescheidenheit könnte man sie fast übersehen, wenn sie nicht mittig an zentraler Stelle stehen würde und wenn nicht der schmale Weg den Blick zu ihr leiten würde. Während vor allem die Architektur der Bauten und die gesellschaftlichen Szenen im unteren Bereich später von Reihlen übernommen wurden, ist die himmlische Welt in der Fassung von Kis ganz anders ausgestaltet.
Hier sind zahlreiche Gläubige, Gerettete und Heilige in einem Halbkreis versammelt, der auf eine Trinitätsdarstellung hin ausgerichtet ist. Nach unten grenzt sich der Halbkreis durch üppige Wolken ab, die allein vor der zentralen Pforte unterbrochen sind. Eine ähnliche Zweiteilung von geordneter Himmelswelt gegenüber irdischen Szenen gab es schon einmal im Spätmittelalter. Damit meine ich vor allem verschiedene Fassungen der Schrift Civitate Dei: Die Handschrift MS MS 9014 aus Brüssel und die Darstellungen „Die himmlische und die irdische Stadt“ des Maitre François zeigen die Entwicklung dieser Gegenüberstellung zweier Welten.
Dem genauen Blick des Kunsthistorikers Christian von Holst ist zu verdanken, auf den katholischen Kontext dieser Arbeit hingewiesen zu haben. So findet man direkt unter der bereits erwähnten Trinitäsdarstellung Maria als Himmelskönigin, dann finden sich in den Texttafeln ihre Lobpreisungen. Ein zeitgenössischer katholischer Künstler war Johann Evangelist Ling (1813-1887), der auch stilistisch ähnliche Werke anfertigte. Seine Urheberschaft oder Mitarbeit ist eine Frage weiterer Erforschung dieses Zweiwegebildes, von dem bislang lediglich eine Fassung aus dem Landeskirchlichen Archiv Stuttgart bekannt ist (Inventarnummer 00.037).

Christian von Holst (Hrsg.): Schwäbischer Klassizismus zwischen Ideal und Wirklichkeit. 1770-1830, zeichnen, malen, bilden, Stuttgart 1993.

 

tags: Zweiwegebild, Neupietismus, Landeskirchliche Archiv Stuttgart, Schwabenkunst
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