Einige mittelalterliche Miniaturen zeigen das christliche Konzept der sechs Weltalter (sex aetates mundi). Es ist eine historische Periodisierung, die von dem Kirchenlehrer Augustinus von Hippo entwickelt wurde und die mittelalterliche Zeitvorstellung prägte. Die sechs Weltalter finden so ihre Entsprechung in angeblich sechs menschlichen Altersstufen (den sechs Lebensaltern) und in den sechs Schöpfungstagen (siebter Tag = Ruhetag). Auch die Geschichte wird in sechs Zeitalter unterteilt, die jeweils tausend Jahre andauern sollten. Der Kreislauf zieht sich von der Schöpfung Adams bis zum Erscheinen des Neuen Jerusalems, dem das siebte Zeitalter der ewigen Ruhe folgen soll. Was vor und nach den sechs Weltaltern lag, also vor der Schöpfung und nach dem Jüngsten Gericht, gehörte nicht zur Zeit, sondern zur Ewigkeit.
Innerhalb der mittelalterlichen Handschriften bilden sie eine eigene Gruppe, die alle das Konzept der sechs Weltalter ähnlich präsentieren, so dass Beziehungen zwischen diesen Illustrationen bestanden haben müssen. Sie alle sind im 14. Jahrhundert in Frankreich entstanden, vielleicht im gleichen Skriptorium. Lange nicht alle Darstellungen zeigen auch das Neue Jerusalem. Bislang konnten immerhin drei Fassungen identifiziert werden, die das tun. Auf allen ist Jerusalem das einzige Elemente, welches den Rahmen des Kreises überschreitet und wie ein Pfeil nach oben verweist.

Eine frühe Fassung, vielleicht die älteste überhaupt, befindet sich heute in der Londoner British Library, nämlich Royal MS 19 C I, fol. 58v. Dieser Band ist um 1310 von Matfre Ermengaud verfasst worden, einem Juristen und französischen Troubadour. Sein „Breviari d’Amor“ war eine frühe Enzyklopädie unter dem Gesichtspunkt der göttlichen und menschlichen Liebe in all ihren Facetten. Die Schöpfung, das Paradies und das Himmlische Jerusalem waren ihm Belege der Liebe Gottes – es ist also kein Zufall, dass man hier eine Miniatur zu den sechs Weltaltern findet. In einen Kreis ist ein Hexagon gesetzt, das von den ausgestreckten Armen und Beinen eines Engels gehalten wird. Über ihm ist das Himmlische Jerusalem dargestellt, im Erdgeschoss mit drei unterschiedlichen Szenen: einem Turm (links), einer Messfeier (Mitte) und Maria mit Christus auf dem Schoss. Die mittige Szene ist durch zwei offen stehende Türflügel hervorgehoben, ähnlich wie auf Darstellungen der Himmelspforte. Darüber schiebt sich ein verjüngender Turm. Türme die das Himmlische Jerusalem repräsentieren, gab es zuvor und auch nach 1310 massenweise. Hier findet sich jedoch das einzige Beispiel, in dem auch Kirchenglocken im Gebälk des Turmes zu finden sind, hier sogleich drei Stück.

Kurz danach, um die Mitte des 14. Jahrhunderts, ist eine Ausgabe in provenzalisch und Latein erschienen (MS Français 857, BnF). Hier findet sich die entsprechende Abbildung auf fol. 57v. Typisch für diese Zeit ist die Einteilung der Bildfläche in verschiedene Kästchen, die alle eine andere Hintergrundfarbe haben, die zumeist kräftig ornamentiert ist, mit einer schier endlosen Bandbreite an Mustern. Die wesentlichen Elemente des Jerusalem-Turms im Vergleich mit Royal MS 19 C I blieben unverändert, die Einzelheiten sind jedoch tendenziell vereinfacht und zurückgenommen. So fügt sich der zuvor separate Turm links jetzt so an den Turm, dass die zwei Bauteile zu einer Kirche verschmelzen. Im Bereich des Tores, wo die Messe zelebriert wird, hat der unbekannte Miniaturist jetzt ein Fallgitter hinzugefügt. Das lateinische Kreuz auf dem Dach wurde gestrichen, die Zahl der Glocken auf eine einzige reduziert.

Eine letzte Fassung zeigt die Handschrift Breviari Pet, fol. 59v aus dem späten 14. Jahrhundert. Die ornamentale Ausgestaltung des Hintergrundes wir immer opulenter, der florale Schmuck greift bereits weit über den Rand der Zeichnung hinaus. Gleichzeitig rückt der lateinische Text von „Breviari d’Amor“ an das Bild heran und rahmt gewissermaßen den Jerusalems-Turm. Der Turm wurde hier von der unteren Szene mit der Messe getrennt, so dass letztlich drei separate Türme im Raum stehen. Mit Schießscharten und Zinnen betonen sie stärker den Festungscharakter.
Karl Sachs: Das provenzalische didactische Gedicht Breviari d’amor des Matfre Ermengau de Béziers, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 25, 1858, S. 413-426, 26, 1859, S. 49-70.
André Lejard (Hrsg.): The art of the french book, London, 1947.
Roderich Schmidt: Aetates mundi. Weltalter als Gliederungsprinzip der Geschichte, Zeitschrift für Kirchengeschichte, 67, 1955/56, S. 288-317.



