
Der Ausschnitt zeigt die zentrale Darstellung des Himmlischen Jerusalem in der Mitte einer Grafik, die insgesamt etwa zehn Mal so groß ist. Wurzelartige Auffächerungen erzeugen unten einen organischen Eindruck eines natürlich gewachsenen Fundaments. Aus knapp zwanzig langen Fadenwurzeln schraubt sich ein Zylinder nach oben, dem drei schmale, verschnörkelte, hohe Türme aufgesetzt sind. Auch hier diente Organisches zum Vorbild, da die Türme wie Meeresschnecken geformt sind – und nicht zufällig so aussehen wie der Turm von Sant’Ivo alla Sapienza in Rom, erbaut von Borromini. Weitere kleinteilige Zeichnungen am Fuß der Schnecken lassen etwas Mauerwerk oder Architektur vermuten, möglicherweise auch Mauerzüge, die sich links oben außerhalb des Zylinders fortsetzen. Das alles wurde im Stil eines Architekturentwurfs oder eines Designs, eines Disegno der Renaissance oder des Barock gehalten. Dazu passen auch die ausufernden Beschriftungen in Italienisch, die ihren Ausgang an der Spitze einer der Schnecken nehmen.
Tatsächlich handelt es sich bei dem Blatt um ein Exemplar aus der Architektursammlung des Centre Pompidou in Paris (Inventarnummer AM 2009-2-853). Der italienisch-englische Titel der Grafik lautet vollständig „Jerusalem Celeste, incision“, also etwa „Himmlisches Jerusalem, Einschnitt“. Genaugenommen handelt es sich um einen Tiefdruck auf Papier, welcher im Jahr 2009 vom Museum von Paolo Portoghesi (1931-2023) erworben wurde. Dieser war ein italienischer Architekt und Architekturhistoriker, der einst die sogenannte Postmoderne mit prägte. Seine Aufsehen erregende Bauten waren u.a. eine neue Synagoge für Rom, die Tegel-Residenz in Berlin und das zentralamerikanische Parlament in Guatemala. In Jerusalem selbst hat Portoghesi nicht gebaut. 1964, als diese freie Zeichnung angefertigt wurde, standen Portoghesis großen Bauprojekte noch bevor, außer einigen Wohnhäusern in Italien hatte er sich bislang hauptsächlich mit Architekturtheorie beschäftigt. Seit 1961 unterrichtete er Architekturtheorie und Städtebau der Renaissance und des Barock an der Universität La Sapienza in Rom, und in diesem Zusammenhang war diese Zeichnung entstanden. Portoghesis bestätigte 2018, dass diese Zeichnung zwar nicht im Unterricht Verwendung fand, aber als freie Übung für ein Idealstadt-Seminar von ihm angefertigt worden war. So gut wie jeder, der sich mit Idealstadt und Architekturutopie im historischen Kontext des Abendlandes beschäftigte, musste irgendwann zwangsläufig zum Himmlischen Jerusalem gelangen – spätestens bei seinem „Dizionario Enciclopedico di Architettura ed Urbanistica“ (1969) hatte Portoghesi erneut mit dem Himmlischen Jerusalem zu tun.
Paolo Portoghesi: Francesco Borromini, Baumeister des römischen Barock, Zürich 1977.