Wolf-Dieter Kohler (1928-1985): evangelische Stiftskirche St. Georg in Tübingen (1962)

1949 hatte Wolf-Dieter Kohler (1928-1985) immer wieder das Neue Jerusalem dargestellt: unten Christus, oben die zwölf Tore. Nachdem gerade Anfang der 1960er Jahre dieses Thema oft auf Glas nachgefragt war, entwickelte der Künstler, was das Motiv angeht, eine neue Darstellungsweise. Kohler war jetzt ein etablierter Meister, der sich von der Malweise seines Vaters Walter Kohler und seines Lehrers, Rudolf Yelin, abgenabelt und seine eigene Formensprache gefunden hatte. So entwickelte er in den 1960er Jahren vermehrt neue Sichtweisen auf altbekannte Themen.
Der Auftrag für die Tübinger Stiftskirche war etwas Besonders, nur noch mit den großen Stuttgarter Aufträgen (Stiftskirche, Hospitalkirche, Markuskirche) zu vergleichen. Nur wirklich große Künstler Württembergs wurden in diese Ehrenhalle schwäbischer Sakralkunst aufgenommen. Neben mittelalterlichen Fragmenten entstanden Fenster von Wolf-Dieter Kohler, Hans Gottfried von Stockhausen, Emil Kiess.
Erstmalig stellt Kohler das Himmlische Jerusalem als friedliche Tierszene dar: auf einem Hügel (angelehnt an den Zionsberg) musizieren ein Mann und eine Frau. Unter einem Bogen, der die Konturen des Hügels aufnimmt, sind ein Löwe, ein Schaf, eine Giraffe, ein Elefant, ein Nashorn, ein Esel, ein Stier, ein Wolf und ein Krokodil oder Alligator friedlich vereint.

In einem weiteren Bogen ist links die Vogelwelt und rechts das Meer der Fische dargestellt. Ein letzter Bogen rahmt alle vorherigen Bögen; hier singen Engelswesen „Lobet dem Herrn. Danket dem Herrn“. Eine solche Darstellung des ewigen Tierfriedens nach Jesaja Kapitel 11, Vers 6-8 hat in den USA Tradition, außer bei den Adventisten ist sie in Europas Sakralkunst eher selten. Kohler war von dem Thema angetan, er griff es seit Tübingen immer wieder auf, bis zu seiner letzten großen Darstellung des Himmlischen Jerusalem 1984 im Sindelfinger Krankenhaus.
Die zwölf Tore der Stadt sind über den Tierfrieden gesetzt, außerhalb der zwei Fensterbahnen im Maßverwerkschmuck ganz oben. Hier hat Kohler die Tore, vielleicht auch aus Platzgründen, eng aneinander gesetzt und teilweise ineinander verschoben. Aus Entfernung entsteht eine homogene Torwand, erst bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass es sich um zwölf Tore handelt.

Während Kohlers großformatiges Jüngste-Gericht-Fenster bekannter ist, da es beim Betreten der Stiftskirche in der Breuning-Kapelle sogleich ins Auge fällt, muss man das Himmlische Jerusalem suchen. Es befindet sich in der Sakristei, die bei meinem Besuch erst aufgeschlossen werden musste. Dann öffnete sich ein intimer Raum mit überraschend hochwertigen Kunstwerken, darunter das Vater-unser-Fenster sowie das Lob-des-Schöpfers-Fenster. Diese beiden Werke, die als Chorfenster für „zu bunt“ abgelehnt wurden, entfalten hier ihre „Brillianz der Farbigkeit“, vor allem, wenn sich die Rot- und Blautöne auf dem matten Sandstein spiegeln.
Beide Fenster sind übrigen im Jahr 1962 hergestellt worden, durch die Stuttgarter Glasmanufaktur Emil Gaisser.

Hermann Jantzen: Stiftskirche in Tübingen, Stuttgart 1993.
Sibylle Setzler, Wilfried Setzler: Stiftskirche Tübingen. Geschichte, Architektur, Kunstschätze, Tübingen 2010.
Oliver Kohler: Unsere Liebe soll nicht traurig sein. Ein Kriegskind auf Spurensuche, Asslar 2017.
Christa Birkenmaier (Hrsg.): Wolf-Dieter Kohler, 1928-1985. Leben und Werk, Petersberg 2021.

 

tags: Württemberg, Tierfriede, Wolf-Dieter Kohler, Sakristei
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