Rudolf Yelin (1902-1991): Evangelische Johanneskirche von Untergruppenbach (1962)

In Untergruppenbach gelang Rudolf Yelin (1902-1991), was das Bildmotiv des Himmlischen Jerusalem angeht, wirklich Neues. Die Tore sind nicht mehr malerisch dargestellt, sondern streng geometrisch. Auch überlappen sie sich nicht mehr, sondern stehen isoliert, manchmal sogar durch die Bleirute abgetrennt vom Nachbartor. Es entsteht eine homogene Fläche von Toren, die keine Mitte frei lässt, sondern vier größere Rechtecke, gefüllt mit Türkis. Geblieben von vorangegangenen Arbeiten ist die rot-blaue Füllung der Tore und ihre goldgelbe Rahmung, die hier durch vereinzelte gelbe Rechtecke angedeutet ist. Die Tendenz ist hochgradig abstrakt, das Vorbild dieses Fensterexperiments ist – einmalig im Schaffen Yelins – die Bauhaustradition. Bislang setzte Yelin sein Jerusalem stets in das mittige Fenster gegenüber dem Altarkreuz. Hier hat Yelin das rechte Seitenfenster gewählt.

Bislang zeigte Yelin unter oder über dem Himmlischen Jerusalem stets den auferstandenen Christus – hier auf keinem der Fenster, dafür eigenartige, selten gesetzte Bildmotive: Fische, Flammen, die Weihnachtskrippe, Undeutbares wie zwei aneinander gesetzte W-Buchstaben im Mittelfenster. Angeblich sollen die Fenster Weihnachten, Passion, Ostern und Pfingsten symbolisch darstellen, das wären allerdings vier Ereignisse für drei Fenster. Eine Besonderheit prägt die Beschäftigung Yelins mit der Zahl der Tore der Stadt. Yelin vermeidet, in Unkenntnis oder absichtlich, die Zahl Zwölf. So hat er hier zwar in das rechte Fenster zwölf Tore gesetzt. Rechts oben findet man ganz oben ein weiteres, dreizehntes Tor.

Es stellt die Himmelspforte dar, mit seiner goldgelben Rahmung und etwas breiter fällt dieses Tor stärker ins Gewicht, es befindet sich passender Weise auch an der rechten Seite, die der Erlösung bzw. dem Himmlischen Jerusalem seit den mittelalterlichen Weltgerichten vorbehalten war.
Untergruppenbach musste mit Martin Günzler einen kunstinteressierten und mutigen Pfarrer haben, der diese drei ungewöhnlichen Fenster am Beginn seiner Amtszeit einfügen ließ. Das geschah anlässlich einer Renovierung der zu Beginn des 20. Jahrhunderts erbauten Jugendstilkirche. Yelin soll nicht nur die Fenster eingebaut haben, sondern ihm unterstand die Gesamtleitung der Umbaumaßnahmen 1961/62. Was euphemistisch „Renovierung“ heißt, war auch hier eine der Purifizierungen der 1960er Jahre: Historische Innendekoration wurde radikal herausgerissen, Malerei entfernt, alles sollte sachlich-nüchtern erscheinen, das Ideal der Zeit war der kastenförmige Mehrzweck-Gemeindesaal. Vom Jugendstil ist im Inneren nicht mehr viel zu sehen, heute sind die Yelin-Fenster der künstlerische Höhepunkt dieser Kirche.

800 Jahre Johanneskirche. Festschrift zur Wiedereinweihung am 3. Advent, 13.12.1987, Heilbronn 1987.
Theophil Steudle: Schwäbische Heimat. Magazin für Geschichte, Landeskultur, Naturschutz und Denkmalpflege, 40, 4, 1989, S. 342-346.
Harald Augenstein: 100 Jahre Evangelische Johanneskirche Untergruppenbach. 100 Jahre mit Leben gefüllt, Untergruppenbach 2003.

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tags: Rudolf Yelin, Württemberg, Fisch, Krippe, Dreizehn, Tor, Purifizierung, Kunstvernichtung, Bauhaus, Bauklötzchen
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