Hin und wieder gelingt es Museen, Kunstwerke aus Privatsammlungen zu erlangen, die unser kunsthistorisches Wissen erheblich erweitern. Sicherlich trifft das im vorliegenden Fall zu. Über die Ikone liegen überraschend viele Informationen vor: Entstanden ist das Werk um 1620 in Russland und befand sich über Jahrhunderte in kirchlichem Besitz. In der Krise der Orthodoxie während des Stalinismus, als Kirchen und Klöster zeitweise verboten waren und ihre Kunstwerke abzugeben hatten, kam diese Arbeit in den Westen. 2019 wurde sie von dem Sammler und ausgewiesenen Ikonenexperten Dr. Reiner Zerlin (geb. 1939) dem Ikonenmuseum Recklinghausen geschenkt und bereichert seitdem die öffentlichen Sammlungen dieses Hauses (Inventarnummer 4119).
Die 31 x 26 Zentimeter große Temperamalerei hat einen klassischen Aufbau: Christus in der Mitte, unten links das Paradies, rechts die Hölle. Aus dem Paradies steigen am linken Rand Gerettete nach oben (Typus Fahrstuhlikone), um an ihren endgültigen Aufenthaltsort zu gelangen, dem Himmlischen Jerusalem. Dieses ist nun alles andere als klassisch, sondern in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Acht Personen stehen vor Arkaden, von einem Engel links assistiert. Nur die vier in der vorderen Reihe sind mit einem Nimbus als Heilige markiert. Sie alle schauen nicht auf zur himmlischen Stadt, sondern nach rechts direkt zu Christus. Neben den vier Arkaden befindet sich ein breites, offenes Tor, durch das die erwähnten Geretteten von unten nachkommen. Darüber stehen sechs schmale Türme, deren Schaft immer wieder durch einen Wulst durchbrochen ist. Keiner gleicht in Form und Farbe dem anderen. Einige sind mit Wetterfahnen geschmückt, die in entgegen gesetzte Richtungen wehen (vermutlich aus kompositorischen Gründen, vergl. eine entsprechende Malerei aus der Kapelle Santa Croce in Mondovi, um 1650). Die Schmuckobjekte auf den Türmen erinnern an die goldene Kronen der Märtyrer. Zwischen den Türmen finden sich Objekte, die an Vogelfedern oder Grasbüschel erinnern: Dies sollen Bäume sein, wie sie auch im Paradies unten zu finden sind. Der ganze Bereich der Türme und Bäume kragt nun aus der Ikonentafel oben heraus, allerdings nur an der linken Seite. An einer Stelle wandelt sich die Fahne eines Turmes in Wolken, welche dann sogar diesen Bereich der Ikone verlassen und nach oben links weiter aufsteigen. Vielleicht helfen diese orientalisch anmutenden Türme, die Entstehung dieser Ikone in Südrussland zu verorten.
Lutz Rickelt (Hg.): Schenkung Dr. Reiner Zerlin. Recklinghausen 2021.
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