Otto Gönner: „Reise in das neue Jerusalem“ (1924)

Die „Reisen in den Mond, in mehrere Sterne und die Sonne“ mit dem Zusatz „Geschichte einer Somnabüle in Weilheim an der Teck“ erschien 1924 in neuer Auflage in Eßlingen am Neckar. Es ist eine neupietistische Erbauungsschrift aus dem frühen 19. Jahrhundert. Sie reiht sich ein in etwa ein Dutzend Utopien, in denen in Form einer Dichtung, eines Romans oder eines Reiseberichtes vom Neuen Jerusalem erzählt wird. Die Intention ist, die Leserschaft zu einem frommen Leben zu motivieren: Desto schillernder das zukünftige Jerusalem geschildert wird, desto frömmer fällt möglicherweise das irdische Leben aus. Tiefer erforscht ist diese germanistische Sonderform noch nicht, nicht einmal das Material wurde systematisch zusammengestellt. In dieser Gruppe nehmen die „Reisen in den Mond…“ eine herausragende Stellung ein, in einem prominenten Verlag in hoher Auflage richten sie sich an ein breites Publikum. Der Text hat mehrere Verweise nach Württemberg, so dass der Verfasser mit einiger Wahrscheinlichkeit auch aus dieser Region gekommen sein wird. Auch an Illustrationen hat man nicht gespart. Die schwarzweißen Zeichnungen sind keineswegs Beiwerk, sondern auf den Text abgestimmt, sie wurden also für diesen Band angefertigt. Sie alle sind mit „Otto Gönner pinx“ signiert. Der Name hilft jedoch kaum weiter, über ihn ist nichts herauszufinden. Die lateinische Beifügung „pinx.“ (also „malte“) deutet auf einen eher professionellen akademischen Hintergrund.

Die letzte Illustration ist dem Himmlischen Jerusalem vorbehalten. Man findet sie als Einlageblatt zwischen den Seiten 320 und 321, mit der Unterschrift „Reise in das neue Jerusalem“. Wie Lichtgestalten schweben zwei Figuren vor drei Tore einer Stadt. Es ist nicht Johannes und der Engel, sondern die fiktive Hauptperson Philippine Demuth Bäurle mit ihrem Begleiter, „Führer“ genannt. Zwischen die beiden Figuren und die Stadt schiebt sich eine gewaltige, dreiläufige Prunktreppe, die sich im inneren der offenen Tore fortzusetzen scheint. Die Stadt wird von einem symmetrischen Hauptbau dominiert, auf Vorsprüngen und Türmen zu seinen Seiten stehen teilweise schlanke Engelsfiguren. Im Text ist dazu weiter ausgeführt: „Die Stadt ist ihrer Größe wegen gar nicht zu übersehen, sie ist ganz viereckigt (sic!), die Länge, Breite und Höhe ist gleich. (…) Die Stadt hat viele und unsäglich große Gassen, welche nicht sehr breit sind, die Hauptstraßen aber haben eine ordentliche Breite. Es gehen immer Thore auf Thore, nämlich je drei auf drei, welche von Engeln bewacht werden, dieses seyen große Ehrenstellen. Meine Führer sagen mir, daß auch Ablösungen Statt finden, die Wächter stehen aber nicht am Eingang der Thore, sondern oben, auf dem Thore, denn sie seyen nicht wegen Beschützung der Stadt, sondern einzig zur Verherrlichung derselben da, weil Unreines und Gemeines nicht eingehen könne“. Die Tore und der Hauptbau sind eine stilistische Mischung von gotischen Spitzbogenfenstern, vorgesetzten Barocktoren und einer Kuppel mit expressionistischen Anklängen. Der Hauptbau ist merklich an zeitgenössische Architektur angelehnt, etwa an Warenhäuser, vergleicht man ihn etwa mit dem Bau von Hermann Tietz in der Stuttgarter Königstraße oder mit Bruno Tauts Glaspavillon von 1914.

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tags: Neupietismus, Jugendstil, Expressionismus, Utopieschrift, Roman
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