Die Martinskirche ist die zentrale evangelische Kirche in der Innenstadt von Kassel, die auch für Konzerte und andere Kulturveranstaltungen genutzt wird. Wie die gesamte Innenstadt wurde auch diese Kirche im Oktober 1943 so gut wie gänzlich zerstört. Der Wiederaufbau erfolgte in Etappen über Jahrzehnte, doch schon Ende der 1950er Jahre konnten die fünf gewaltigen Fensterbahnen (jeweils im Format 12,50 x 1,60 Meter) des Chorbereichs mit neuen, hochwertigen Buntglasfenstern ausgestattet werden. Damit beauftragte man Hans Gottfried von Stockhausen, der in Kassel schon 1953 mit einer Jerusalems-Thematik in der Unterneustädtische Kirche Aufsehen erregt hatte – der Künstler war in der Landeskirche bekannt, man traute im mehr zu.
Von Stockhausen konnte die umfangreichen Arbeiten für die Martinskirche nach vier Jahren Planung und Diskussion 1958/1959 fertigstellen. Der Künstler erinnert sich: „Eine Einfügung des Heiligen Martin stand von Beginn an fest. Über die weitere Gestaltung wurde intensiv gesprochen, es gab unterschiedliche Wünsche von einem Christus Pantocrator (sic!) bis hin zu mehr geometrischen Lösungen. Schließlich boten sich die zwölf Tore und Engel des Neuen Jerusalem als ein gewisser Kompromiss, da hier eine serielle Rhythmisierung einen gewissen Effekt zu erzeugen vermochte, der an geometrische Struktur erinnern kann (…). Diese Lösung (die Fensterlösung im Ulmer Münster) fand schließlich Gefallen und gab die Grundlage zu mehreren Entwürfen, die ich 1957 vorlegte. Man kam überein, kräftigere Farben zu verwenden und auf manche Binnendetails zu verzichten. Schließlich wurde der Entwurf gewünscht, der sechs Tore an zwei Fensterbahnen emporwandern lässt und der zentralen Bahn nicht allein eine Rahmung bietet, sondern das endzeitliche Geschehen in den drei zentralen Fenstern verbindet.“
Die zwölf Tore wurden überwiegend in roten und blauen Farben gestaltet, den traditionellen Farben des Neuen Jerusalem. Jedes Tor ist von Mauerwerk umgeben, das ein Dreieck ergibt und mit einem Engel besetzt ist. Diese haben menschliche Gesichter und bis zu sechs Flügeln, die mit Augen ausgestattet sind. Auf jeder Bahn sind sechs solche Tore bis in zwölf Meter Höhe übereinander gesetzt.
Genaugenommen sind es sogar vierundzwanzig Tore, durch einen besonderen Effekt: Beim Wiederaufbau hat man den Chorraum vom Hauptschiff durch eine Glaswand getrennt, um so einen kleineren Raum für intime Feierlichkeiten zu haben. In dieser Glaswand spiegelt sich zu bestimmten Tageszeiten die Pracht der fünf Chorfenster in überraschender Detail- und Farbgenauigkeit wieder, so dass man kaum Original von Spiegelung unterscheiden kann. Diesen Effekt hat man allein im Chorraum, nicht im Hauptschiff, wo das Originalfenster durch die Fenstertrennung hindurch scheint, aber nicht gespiegelt wird.
August Schwab (Hrsg.): Kreuz und Krone: Gedenkschrift zur Einweihung der wiederaufgebauten Martinskirche in Kassel, Kassel 1958.
Peter Horst: Die Martinskirche in Kassel, München/Berlin 1977 (2).
Oskar Beyer: Kirchenfenster des Malers Hans Gottfried von Stockhausen, Kassel 1960 (2).
Wolfgang Kermer (Hrsg.): Hans Gottfried von Stockhausen – Licht und Raum: Aufsätze, Vorträge, Interviews, Stuttgart 2004.
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