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Miniaturen aus der „Klugen Apokalypse“ (um 1820)

Es gibt in der Russischen Staatsbibliothek zu Moskau eine ganze Anzahl wertvoller Handschriften, die bislang selbst Fachleuten kaum bekannt sind und zu denen keine Fachliteratur existiert. Das gilt auch für die Signatur F.98 Nr. 662. Hinter dieser Signatur verbirgt sich eine Handschrift mit Miniaturen aus der Sammlung von E. E. Egorova der Staatsbibliothek, der dieses und andere Werke am Ende des 19. Jahrhunderts vor der Vernichtung bewahrt hat und für eine sachgemäße Aufbewahrung sorgte. Die betreffende Handschrift war kurz zuvor zu Beginn des Jahrhunderts angefertigt worden. Übersetzt heißt das Werk die „Kluge Apokalypse“, „Intelligente Apokalypse“ oder etwa „Vernünftige Apokalypse“. Von den 72 Miniaturen zeigen vier das Neue Jerusalem:
Fol. 8 bringt in der oberen Hälfte eine Himmelspforte. Es ist die Szene mit den sieben Leuchtern, die vor der apokalyptischen Frau frei im Raum schweben. Hier ist es einmal nicht Petrus, der den Schlüssel zur Pforte (die den Himmel symbolisiert) hält, sondern diese Frau. Wie auch auf anderen Miniaturen der Sammlung ist bereits die Tendenz zu erkennen, große Flächen frei zulassen und lediglich die wichtigsten Merkmale oder Gegenstände bildlich aufzunehmen.


Das gilt auch für fol. 10. Hier wird die Geschichte mit den sieben Leuchtern weitererzählt. Während zuvor die Pforte gar keine Türen hatte, so sind hier zwei Türflügel ohne Pforte zu sehen! Das Motiv der gesprengten Türflügel ist typisch für die russisch-orthodoxe Ostkirche, man findet sie nicht allein auf Miniaturen, sondern auch auf Ikonen. Wie üblich, werden die Türflügel mit weiteren typischen Merkmalen des Himmlischen Jerusalem verbunden, von unten nach oben: der Seher Johannes mit dem Engel, das Wolkenband als Trennung von irdischer zu himmlischer Sphäre, die vierundzwanzig Ältesten, die Kronen der Märtyrer, Christus auf dem Thron, umgeben von den vier apokalyptischen Wesen.

Mehr Architektur der Stadt zeigen fol. 65 und fol. 67. Erstere ist eine Kopie einer Apokalypsehandschrift von ca. 1550 (Signatur 1844). Solche Kopien waren gerade zu Beginn des 19. Jahrhunderts beliebt, man findet sie auch in F.98 Nr. 663, an der vermutlich der gleiche (namentlich unbekannte) Zeichner mitgearbeitet hat. Kennzeichnend ist das extreme Vor- und Zurückspringen der roten Zacken, die die Stadtmauern des Neuen Jerusalem darstellen. Hier ist man nicht um Christus, sondern um Maria zum Ewigen Abendmahl versammelt.

Ähnliches präsentiert inhaltlich fol. 67, wenngleich formal ganz anders: die Stadt ist gelandet, der Engel und Johannes, zuvor noch getrennt, sind nun vereint. Zahlreiche Heilige bevölkern in Gruppen die Stadt, die jetzt eine oktogonale Form hat (vgl. auch Apokalypse F.98 Nr. 372, fol. 260).

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In der gleichen Sammlung der Russischen Staatsbibliothek befindet sich eine zweite Fassung dieser Apokalypsehandschrift (Signatur F.98 Nr. 767), die ebenfalls um 1820 entstanden sein muss. Darauf deutet vor allem eine Analyse der Farben, die in beiden Werken identisch sind. Vermutlich waren auch die gleichen Künstler daran beteiligt. Die Einzelheiten sind etwas detailreicher, die Malweise geschwungener, einfacher und schneller gearbeitet, was vielleicht auch den weit über tausend Seiten dieses Konvoluts geschuldet ist. Fol. 69v zeigt auch hier als erstes die Himmelspforte. Eine Änderung zu F.98 Nr. 662 besteht darin, dass die Pforte hier an die rechte Seite gerutscht und geschlossen ist.

Die Seitenverdrehung setzt sich auf fol. 82v fort: jetzt befinden sich Johannes und der Seher auf der linken Seite. Die Kolorierung wurde in großer Eile vorgenommen, ein Indiz dafür ist der rechte obere Engel neben Christus. Eigentlich sollten nur sein Flügel goldgelb gefärbt sein, doch der Maler überstreichte das gesamte Gesicht. Auf der gegenüberliegenden Engelsfigur hat er eine Stelle des Flügels übersehen und komplett weiß belassen.

Wir müssen erst zu fol. 323v blättern, bis wieder etwas vom Neuen Jerusalem zu sehen ist. Erneut sind es die aufbrechenden Türflügel. Im Gegensatz zu der vorherigen Illustration sind die Flügel einfach, fast schon schemenhaft-symbolisch gehalten. Der linke Flügel buchtet an seiner Oberseite (die hier nach unten gedreht ist!) etwas aus, auf dem gegenüberliegenden Flügel hat man dieses Detail vergessen. Diese Szene ist in F.98 Nr. 662 nicht bildlich dargestellt.


Fol. 918v von F.98 Nr. 767 entspricht fol. 65 von F.98 Nr. 662. Die Architektur ist vereinfacht gehalten, der Schmuck größtenteils weggelassen. Ohne kleine Änderungen geht es offensichtlich nicht: der Adorant in dem grünen Gewand befindet sich hier nicht unter, sondern neben der Stadt. Der Bogen über der Stadt, bei F.98 Nr. 662 konvex, ist hier konkav gesetzt, wie üblicherweise ein Regenbogen wiedergegeben wird, was es hier auch sein soll. Durch die erwähnte Figur neben der Stadt, ihre tiefe Lage und vor allem durch Andeutungen von Boden um die Stadt herum sollte deutlich werden, dass diese Stadt nicht schwebt, sondern gelandet ist.

Das grande final sind sicherlich die beiden Zeichnungen auf fol. 925 und fol. 968v. Beide Illustrationen zeigen zahlreiche Heilige, die im Inneren der Stadt verteilt sind. War in allen vorherigen Illustrationen auf den jeweiligen Blättern Platz freigehalten, bedecken nun diese beiden Zeichnung fast das gesamte Blatt. Die Architektur zeigt die Tore der Stadt, auf fol. 925 sind es sogar zwölf. Jedes Tor ist mit einem Engel besetzt, von denen zwei ein Flammenschwert halten. An den Seiten zeigt sich die Stadtmauer im Zackenstil mit Vor- und Rücksprüngen, oben und unten ist die Mauer gerade. Während auf fol. 925 Maria im Stadtzentrum auf einem Thron Platz genommen hat, ist es auf fol. 968v. Christus, der hier das Ewige Abendmahl feiert.

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tags: Russische Staatsbibliothek Moskau, Egorova, Schlüssel, Türflügel, Leuchter, Oktogon, Apokalypsehandschrift
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