MS HS 201: Spiegelvision des des Guillaume de Digulleville (um 1460)

Eine bislang in der Forschung weniger beachtete illustrierte Ausgabe der Pilgerreise ist in der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt beheimatet. Dort hat sie die Signatur HS 201. Im Gegensatz zu zahlreichen lateinischen und altfranzösischen Ausgaben haben wir hier eine Edition in rheinfränkisch vor uns. Sie wurde in Köln, Aachen oder Koblenz angefertigt, im Auftrag der Adelsfamilie Nordeck zur Rabenau. Die Pilgerfahrt des träumenden Mönchs ist einfach illustriert, teilweise sind noch die Vorzeichnungen zu erkennen. Es handelt sich bei den Illustrationen stets um Binnenzeichnungen von fünf bis sieben Zentimeter Größe, die in den handgeschriebenen Text eingeschoben sind. Auch die Farbgestaltung ist begrenzt, überwiegend sind es die gleichen Grün,- Rot- und Gelbtöne.

Fol. 2v zeigt die Hauptperson im Bett, mit geschlossenen Augen offensichtlich schlafend. Die Stadt, von der er träumt, erscheint ihm in einem Kreis mit rotem Rahmen. Im Roman ist dies ein Spiegel, was hier nicht wirklich zu erkennen ist. Die Wölbung des Rahmens wiederholt sich in der Stadtmauer, die ebenfalls die Farbe des Rahmens hat. Der zentrale weiße Turm durchbricht die Mitte und ragt sogar noch über die hintere Mauer hinaus. Im Gegensatz zu dem prachtvollen Bett ist die Darstellung im Spiegel relativ einfach, teilweise grob eingezeichnet.

Ein Blick auf fol. 3r zeigt sogleich: Hier war der gleiche Künstler am Werk, dessen Namen und Herkunft wir nicht kennen. Jerusalem wird nun nicht mehr im Spiegel gezeigt, sondern die Geschichte hat ihren irdischen Lauf genommen. Die hermetisch geschlossene Türe und der bewaffnete Engel sollen klar machen, dass in diese Stadt sich niemand illegitim Zutritt verschaffen kann. Interessant ist das Wappenschild des Ritter-Engels, welches zu der Familie Nordeck zur Rabenau gehört.

Illegitime Versuche, in die Stadt zu gelangen, starten ausgerechnet die frommen Vertreter der Kirche, die Mönche. Zunächst mit einem Versuch, der von der griechischen Sagenwelt entliehen ist: wie Dädalus und Ikarus versuchen die Mönche, sich mit Federn wie Vögel in die Luft zu erheben. Im Gegensatz zu ihren antiken Vorgängern misslingt dies gleich zu Beginn und es müssen andere Mittel gewählt werden. Der Illustrator hat Humor: Eine der Federn klebt dem Bischof in der Stadt am Mund, er besitzt nun einen grünen Bart.

Die folgenden zwei Illustrationen auf fol. 4r thematisieren zwei Erzählungen: den zweiten Versuch, die Stadtmauer mit einer Leiter zu überwinden, und dann den dritten Versuch, sich an der Mauer mit einer Kordel hochziehen zu lassen. Interessant sind die zwei unterschiedlichen Seiten der Mauer: links sind es Quadersteine, rechts offensichtlich Feldsteine.

Dieser letzte Versuch wird auf fol. 4v in einer separaten Miniatur gezeigt. Hier sind es jedoch Mönche eines anderen Ordens, die einen erneuten Versuch unternehmen. Das Neue Jerusalem besteht im Prinzip bei allen Zeichnungen aus drei groben Elementen: Einer Kirche mit grünem Dach, einem weißen Turm und rosafarbenen Mauern – mehr braucht es nicht. Die übergroßen Figuren zeigen individuelle Physiognomien, bemerkenswert sind auch die geschminkt wirkenden roten Lippen der Mönche.

Der Heilige Petrus zeigt auf fol. 5r den rechten Weg in die Stadt: Man stellt sich in eine Reihe und wartet. Während bei den Wartenden oftmals Päpste und Kaiser in der ersten Reihe zu finden sind, haben sich hier einmal einfache Menschen, auch eine Frau, versammelt. Ebenso ist Petrus hier im einfachen Mönchsgewand gekleidet. Die Mauer vor ihm hat plötzlich eine Pforte, deren Tür Holzmaserungen zeigt. Der große Schlüssel soll verdeutlichen, dass hier der Eintritt gewährleistet ist.

Kurt Hans Staub, Thomas Sänger: Deutsche und niederländische Handschriften mit Ausnahme der Gebetbuchhandschriften, Wiesbaden 1991 (Die Handschriften der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, 6).

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tags: Rheinland, Spiegelvision, Roman, Seil, Leiter, Vogel, Mönche, Spätmittelalter
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