Die vorliegende Miniatur mit einer Gesamtgröße von 15 x 11 Zentimetern zeigt zahlreiche weiße Engel sowie Jesus Christus, der nach dem Jüngsten Gericht als Weltenherrscher die ehrbaren Jungfrauen empfängt, die feierlich in das Himmlische Jerusalem einziehen. Auch eine Nonne im Gewand der Benediktinerinnen ist darunter. Die Szenerie ist ausgesprochen freundlich, Christus erscheint hier einmal nicht als furchteinflößender Weltenrichter, sondern er erinnert eher als Lehrer unter dem Kreis der Jünger – auch ein solches Bild vom Christentum hat es immer gegeben.
Die Stadt ist im spätgotischen Stil dargestellt, wie es zur Zeit der Entstehung dieser Miniatur gegen Ende des 15. Jahrhunderts in Mitteleuropa typisch war. Es lassen sich auch Anklänge an den Paradiesgarten oder den Hortus Conclusus finden, wie etwa den Rosengarten im Hintergrund oder das filigrane Gatter im Vordergrund. Von diesem Gatter führt übrigens ein vergoldeter Bogen nach oben, überspannt die gesamte Stadt, die hier als prächtiges Wohnhaus dargestellt ist. Die goldene Linie berührt fast den oberen Bildrand und geht dann an der rechten Seite wieder senkrecht nach unten. Es ist eine weitere Bildrahmung im eigentlichen Bild, die links auch das Tormotiv aufnimmt. Die steinerne Rundbogenpforte des Baus ist bereits im Flamboyant gezeichnet. Dort findet man nochmals Engelsfiguren als skulpturalen Schmuck.
Der Künstler dieser filigranen Arbeit auf Basis von Gold und Tempera ist bekannt: Es war der Franzose Simon Marmion (um 1425-1489) aus Amiens, der der flandrisch-niederländischen Stilrichtung angehörte. Er war vor allem auf Buchillumination spezialisiert, schuf aber auch Altargemälde wie den Hochaltar der Abteikirche St-Bertin in St-Omer (1455-1459). Sein Werk mit dem Himmlischen Jerusalem ist seit 1975 Teil der Robert Lehman Collection des New Yorker Metropolitan Museum of Art (Inventarnummer 1975.i.2477).
Thomas Kren, Roger Wieck: The visions of Tondal from the Library of Margaret of York, J. Paul Getty Museum, Malibu 1990.
James Thorpe: Book of hours: Illuminations by Simon Marmion, Huntington 2000.