Nach mittelalterlicher Vorstellung war das historische Jerusalem in Palästina nicht nur der Mittelpunkt der damals bekannten Welt, sondern auch des zukünftigen Neuen Jerusalem. Dieses ist bereits auf dieser Karte in der Mitte angedeutet: Im Zentrum steigt Christus aus einem Sarg, in seiner Hand hält er eine Siegesfahne. Manche denken, hier sei Christus auf einem Thron dargestellt (Majestas Domini), doch die beiden schlafenden Wächter unter der Christusfigur deuten darauf hin, dass es sich um eine Auferstehungsszene handelt. So erklärt es auch ein lateinischer Beitext zur „Iherusalem sanctissima“: „Hec civitas celeberrima capud omnium civitatem toti mundo extat, quia in ea salus humani generis morte et resurrectione Domini consumata est dicente psalmista“. Um diese Szene ist eine goldfarbene Stadtmauer mit zwölf Toren gelegt, je zwei an einer Seite und vier weitere mit einem Helmdach an den jeweiligen Eckpunkten. Die Mauer ist quadratisch angelegt und an den Ecken geringfügig abgeschrägt. Sie steht Kopf, das heißt, die Türme der oberen Seite sind nach unten gekehrt, da man im Mittelalter die korrekte Perspektive noch nicht beherrschte. Von der Minaturmauer ist jeder einzelne Stein zu sehen, einige haben Fenster oder Schießscharten, von einigen kann man auch das Tor erkennen.
Die Absicht der Verfasser der Karte war es nicht, ein geographisch korrektes Abbild der Welt anzufertigen. Vielmehr spiegelte die Karte das historische, mythologische und theologische Wissen der Zeit um 1300 wider. Die größte Karte aus dem Mittelalter (30 Pergamentblätter) ist nach ihrem Fundort, dem Kloster Ebstorf in der Lüneburger Heide, benannt. Durch Mäusebefall und unsachgemäße Lagerung waren bereits über die Jahrhunderte viele Details verloren gegangen, vor allem ein größeres Feld rechts oben (wo sich Indien befand) sowie Ausfransungen und Bruchstellen links unten. Das Original wurde schließlich im Oktober 1943 bei einem Luftangriff auf Hannover durch englische Bombenabwürfe vernichtet. Seitdem gab es verschiedene Bemühungen, anhand von Kopien dem Original möglichst nahezukommen. Diese Rekonstruktionen sind eine Wissenschaft für sich und werfen wieder neue Fragen auf.
Dazu zwei Beispiele: Links sehen wir Jerusalem in der Nachzeichnung des Theologen und Kartographiehistorikers Conradus Miller, also Konrad Miller (1844 -1933). Rechts hingegen eine Rekonstruktion der Stadt aus dem 21. Jahrhundert. Eigenartiger Weise zeigt dieser Rekonstruktionsversuch Christus ohne Gesicht – eine solche Gesichtslosigkeit einspricht nicht dem Original, sondern ist eine moderne Zutat. Miller zeigt die Stadt in einem satten Goldton, auch der Hintergrund ist vergoldet, wie es gotischen Malereien dieser Zeit entsprach. Die Rekonstruktion wählte für die Ummauerung ein helles Gelb und für den Hintergrund ein chargierendes Blau. Es bleibt zu hoffen, dass der weitere technische Fortschritt, zuletzt durch die KI (was hier noch nicht zur Anwendung kam) das Wissen um ein „wahre Aussehen“ weiter befördern wird.
Ernst Sommerbrodt: Die Ebstorfer Weltkarte, Hannover 1891.
Konrad Miller: Monialium Ebstorfensium Mappamundi, Stuttgart 1896.
Jürgen Wilke: Die Ebstorfer Weltkarte, Bielefeld 2001.
Brigitte Englisch: Ordo orbis terrae, Berlin 2002.
Hartmut Kugler u.a. (Hrsg.): Die Ebstorfer Weltkarte, Berlin 2007.