Im frühen zwanzigsten Jahrhundert erscheinen in den Werken des russischen Malers Nicholas Roerich (1874-1947) symbolische Bilder der himmlischen Stadt. Am bekanntesten war sicherlich die Wandmalerei „Königin des Himmels“, ein Fresko mit Himmelsarchitektur über den Apsisfenstern in der Kirche des Heiligen Geistes der russische Künstlerkolonie Talaschkino. Entstanden ist diese Arbeit 1912 und wurde wenige Jahre später von Kommunisten vernichtet. Andere Arbeiten haben sich erhalten. Ein erstes Beispiel ist das Bild „Engelsschatz“ (366 x 315 Zentimeter), an dem Roerich von 1904 bis 1905 arbeitete und es 1909 in St. Petersburg erstmals öffentlich ausstellte. Es befindet sich heute im sogenannten Konstantinowski-Palast (Staatskomplex „Kongresspalast“ in Strelna).
Auf dem Ölgemälde sieht man zahlreiche Engel, die den Schatz, das Himmlische Jerusalem, bewachen. Die einheitliche Stadt mit Hauptmauern und Nebenmauern zieht sich an den sanften Hügeln des Hintergrunds entlang. Die Mauern sind grau, die Türme blau. Links oben befindet sich der von einer Engelsarmee bewachte Eingang, gestaltet in Anlehnung an eine russisch-orthodoxe Kirche.
William Ritter: Artisti contemporanei. Nicolas Roerich, in: Emporium. Rivista mensile illustrata d’arte e di cultura, 31, 1910, S. 163-178.
Jacqueline Decter: Nicholas Roerich. Leben und Werk eines russischen Meisters, Basel 1989.
Nicholas Roerich. From the collection of the International Centre of the Roerichs, Moscow, Aschau 1997.
Andrew Tomas: Nikolaus Roerich. Künstler und Lehrer, Aschau 1999.
Zum Künstler:
Nicholas Roerich (1874-1947) war Maler, Archäologe, Reisender und Philosoph. Er initiierte den Roerich-Pakt, einen Vorläufer der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten, und wurde mehrfach für den Nobelpreis nominiert. In frühen Jahren gründete er gemeinsam mit seiner Ehefrau Helena Roerich die theosophische Vereinigung Agni Yoga (Lebendige Ethik). In St. Petersburg studierte Roerich Rechtswissenschaft sowie Kunst und war in Künstlerkreisen schon in frühen Jahren als Maler und Zeichner erfolgreich. Sein Erstlingswerk erregte Aufsehen und wurde von dem einflussreichen Sammler Tretjakow erworben. Einer breiten Öffentlichkeit wurde er im Jahr 1913 bekannt, als er an Igor Fjodorowitsch Strawinskis Ballett „Le Sacre du Printemps“ als Librettist mitarbeitete. 1917 emigrierte die Familie Roerich nach London und dann in die USA. 1921 gründete Roerich dort das New Yorker Master Institute of United Arts. 1923 zog er weiter nach Indien, Tibet, China, Sibirien und schließlich in die Mongolei. Roerich fand in der Ortschaft Naggar im Kullu-Tal (Himachal Pradesh) eine zweite Heimat, wo er sich auch mit dem Buddhismus beschäftigte. Trotz der Weite seines Denkens und Interesses an fremden Kulturen und Religionen war Roerich tief in der orthodoxen Kunst verwurzelt. Seine drei erhaltenen Werke zum Himmlischen Jerusalem, „Engelsschatz“, „Weiße Stadt“ und „Wächter“, machen dies ebenso deutlich wie seine Marien-Darstellungen.