Dieses einzigartige Beispiel für ein russisches Weltgericht soll aus Nowgorod stammen. Es wurde jedoch seinem Ursprungsort entnommen und kam in das Kiewer Nationalmuseum für russische Kunst, dort Inventarnummer Zh-4. Seit 2017 führt das Museum den Namen Nationalmuseum Kiewer Gemäldegalerie, kurz Kiewer Nationale Gemäldegalerie. Wie oftmals in solchen Fällen gingen damit wesentliche Informationen, wie die Frage nach Auftraggeber(n), Künstlern(n), Aufstellungsort, Rezeption etc. verloren und können vermutlich auch nicht mehr rekonstruiert werden, da durch den russisch-ukrainischen Krieg Archivalien zerstört wurden und Fachleute des Museums umkamen. Somit ist lediglich gesichert, dass diese Ikone aus Tempera gearbeitet ist und eine Gesamtgröße von immerhin 149 x 88 Zentimeter aufweist. Wenn sie tatsächlich um das Jahr 1500 entstanden ist, hat sich mit ihr eine der ältesten Weltgerichtsikonen der Ostkirche in hervorragendem Zustand erhalten.
Bereits dieses frühe Beispiel besitzt alle typischen Bildmotive einer klassischen Weltgerichtsikone. Unten ist in ausführlichen Details die Hölle dargestellt. In der Mitte findet man eine Schlange, links die Paradiespforte mit Heiligen, die zurück in das Paradies wollen. Weitere zahlreiche historische und kirchengeschichtliche Heilige sind in Gruppen auf der oberen Hälfte der Ikone zusammengefasst, ausgerichtet zu Christus Pantokrator im Zentrum. Glücklicherweise ist auch das Himmlische Jerusalem auf dieser Ikone gut erhalten, wie üblich in der oberen Ecke links. Es handelt sich um einen würfelartigen, annähernd quadratischen Bau, der mit einer seiner Ecken um 90 Grad zum Betrachter hin gedreht ist. Es ist vollständig mit Rot gearbeitet: die Flächen in hellem Rosa, die Umrisslinien in dunklerem Rot. An den vier Ecken ragen niedrige Türme nach oben. Das Zentrum der Stadt ist mit einem slawischen Kreuz belegt, welches als einziges Objekt die gesamte Stadt überhöht.
Claus Bernet: Ikonen des Weltgerichts, Norderstedt 2015 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 37).