So gut wie unbekannt ist diese Meisterwerksikone aus dem 16. Jahrhundert, die heute in einer Privatsammlung aufbewahrt wird. Anhand von stilistischen Vergleichen wird vermutet, dass sie wohl auf dem Gebiet des heutigen Griechenlands entstanden sein muss, vermutlich auf der Mittelmeerinsel Kreta. Die Insel war damals ein Zentrum byzantinistischer Kunst und besaß mehrere Ikonenwerkstätten. Weiteres, wie Auftraggeber, beteiligte Künstler und die Provenienz liegen leider im Dunkeln. Es handelt sich um einen dreiteiligen Flügelaltar, wie sie vor allem im Mittelalter beliebt waren. Auf dem Bild ist links noch der Ansatz einer der beiden Seitenflügel erkennbar, mit denen das Kunstwerk geschlossen bzw. geöffnet werden kann. Im geöffneten Zustand wird auf der Mitteltafel das Jüngste Gericht gezeigt. Hier ist, wie auf orthodoxen Arbeiten eher unüblich, das Himmlische Jerusalem einmal unten links dargestellt, nicht als Paradiesgarten mit den drei Patriarchen, sondern mit einer vor allem im Westen typischen Szene: Der Heilige Petrus ist gerade dabei, ein schlichtes Tor aufzuschließen, um eine kleine Gruppe Geretteter von rechts einzulassen. Kontrastreich hebt sich die rote Füllung der Tür von der weißen klassizistischen Rahmung ab. Die Mauerung ist leicht schräg gesetzt und die Pforte ist über mehrere Stufen zu erreichen. Eine solche Pforte (einfacher, rechteckiger Rahmen, einheitliche Füllung) fällt auf und ist für solche Arbeiten eher eine Ausnahme, eine ähnliche Gestaltung zeigt noch eine ukrainische Weltgerichtsikone (15. Jh.), wo ein ähnliches Objekt vermutlich eine Stadtmauer darstellt. Auch die Kreta-Ikone zeigt dekoriertes Mauerwerk: Zur linken Seite setzt sich ein kurzer Mauerzug fort, wiederum in einem Marmor imitierenden Weiß, mit Ornamenten im zeittypischen Renaissancestil. Vor der Mauer, offensichtlich auf einer Art Bank, haben zwei Heilige Platz genommen, sie werden als Maria und Christus gedeutet. Weitere Heilig sind über den beiden Figuren versammelt und scheinen auf der Mauerkante oder in der Stadt zu stehen.
Richard Tempel: Icons divine beauty, London 2004.
Claus Bernet: Pretiosen des Ostens: Ikonen, Norderstedt 2015 (Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 36).